Donnerstag, 4. Dezember 2008

Von Felten Welten-Productions* präsentiert

Der Sternenblues

Sie hört die Wellen rauschen. Rhythmisch plätschern sie unaufhaltsam gegen die Steine. Die Zeit vergeht, die Zeit vergeht, die Zeit vergeht, scheint das Wasser schon fast spöttisch zu flüstern. Ich weiss, ich weiss, ich weiss, denkt sie. "Wieso sagt ihr mir das immer wieder? Wollt ihr mir mit eurem Wellenfluss den Boden unter den Füssen wegziehen?" fragt sie und richtet ihr Gesicht gegen den Himmel. Die leuchtenden, kleinen Punkte tanzen am schwarzen Himmelmeer. Sie tanzen, werden grösser und kleiner, sie zerplatzen und sprühen Sternschnuppen in alle Richtungen. Trotz dem wilden Tanz erkennt sie den Orion. Viel mehr Sternbilder kann sie ohnehin nicht benennen, aber den Orion, den würde sie immer erkennen. Die drei Sterne seines Gürtels sind unverkennbar. Wie oft sie den wohl schon betrachtet hat, den Orion? Wenn die Sternpunkte nicht gerade den Blues tanzen, sehen die Bilder am Himmel immer gleich aus, Nacht für Nacht und lassen vergessen, dass die Zeit vergeht, vergeht, vergeht, wie es die Wellen zu flüstern pflegen. Die Sterne sind ihr Anker - wenn auch der Anker der Sehnsucht, der Anker der Melancholie. Sie hat schon früher oft auf dem Balkon gestanden und den Nachthimmel angefleht, ihr Flügel zu verleihen, damit sie im Sternenmeer schwimmen kann wie ein Fisch, wie ein Vogel – ein Weder-Fisch-noch-Vogel, wahrscheinlich. Sie wollte sogar einmal Astronautin werden und auf den Mond fliegen - die erste Frau auf dem Mond, die den Mann im Mond besucht. Da es ihr aber auf dem Karussell schon nach der ersten Umdrehung übel geworden ist, hat sie diesen Plan irgendwann verworfen. Dennoch hat sie die Sterne immer wieder betrachtet und mit ihnen über den Sinn und Unsinn des Lebens diskutiert – vielleicht müsste man der Genauigkeithalber sagen: einen Monolog geführt, denn die Sterne haben sie kaum zu Wort kommen lassen. Sie haben auf sie eingeredet mit ihren lieblichen Sternensilberstimmen bis sie fast eingeschlafen wäre. Dann ist sie aufgestanden und hat sich höflich für das Gespräch bedankt. Sie hat sich nie beklagt, dass ihr die Sterne nie zuhören wollen, denn ihre Fragen wurden auch ohne zu fragen beantwortet. Deshalb hat sie sich immer wieder auf die Erzählungen der Sterne eingelassen, sich ins Gras neben die Birke gelegt und einfach in das Glitzern gestarrt, bis ihr davon schwindlig geworden ist und die nackte Haut vom Rasen zu jucken angefangen hat. Manchmal hat sich auch vorgestellt, sie wäre in der Zukunft, sie wäre in einem Raumschiff und würde durch die unendlichen Weiten des Weltalls segeln, auf der Suche nach fremden Galxien. "Beam me up, Scotty!" hat sie oft in die Nacht gerufen. Natürlich wusste sie, dass das Raumschiff Enterprise mit ihrer zweihundertmannstarken Besatzung zu weit weg war, um ihre Rufe zu hören. Die Enterprise war zu weit weg im All, zu weit weg in der Zukunft – oder war sie in der Vergangenheit? – und ausserdem hatte sie ja keinen Communicator.

Die Sterne haben jetzt aufgehört zu tanzen. Wahrscheinlich sind sie müde geworden (oder si si am Blues mittlerwyle e halbe Schritt vorus). Die Geschichten, die die Sterne heute zum Besten geben, sind etwas wirr. Sie kann den Sätzen kaum folgen, und manchmal glaubt sie sogar, sie sprächen in einer ihr fremden Sprache. Sie schaut zurück ins Wasser. Die Wellen melden die Zeit vergeht, die Zeit vergeht, die Zeit vergeht. Ich weiss, ich weiss, ich weiss, denkt sie und flüstert spöttisch zurück "und es ist gut so, dass die Zeit vergeht, die Zeit vergeht, die Zeit vergeht." Die Wellen sind zwar stur, aber nicht trotzig, denn obwohl sie erstaunt sind über ihre Antwort – das hat sie nämlich noch nie gesagt – hören sie nicht auf zu fliessen und sagen die Zeit vergeht, die Zeit vergeht, die Zeit vergeht. Heute sind die Wellen mein Anker, denkt sie. Natürlich ist ihr klar, dass Wasser nicht ein Anker sein kann, aber das ist ihr egal. Sie hat ja früher auch schon gewusst, dass ein Fisch nicht durch das Sternenmeer schwimmen kann und hat es trotzdem immer wieder versucht. Bereut hat sie diese Versuche nie. Sie steht auf bedankt sich höflich bei den Wellen und trotzdem auch bei den Sternen für das Gespräch. Sie fühlt sich zwar immer noch wie ein Weder-Fisch-noch-Vogel ohne Flügel und ohne Kiemen, aber vielleicht sollte sie einfach einmal versuchen durch das Wasser zu fliegen, anstatt durch den Himmel zu schwimmen. Ein Versuch wäre es auf jeden Fall wert, denkt sie und geht.


* Von Felten Welten-Productions: Ein Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten