Dienstag, 20. April 2010

Stumme Zeugin

Wenn er mich begrüsst hat, berührt er kurz mit der rechten Hand sein Herz und neigt dabei den Kopf leicht seitlich nach vorne. Auf einem kleinen, silbernen Tablett serviert er uns jedes mal Tee, Kaffee oder frisch gepresste Säfte - manchmal auch Gebäck dazu, immer lächelnd. Dann verschwindet er in ein anderes Zimmer oder er räumt den Balkon auf.

Sie trägt das Tuch zu Hause nur, wenn sie die Türe öffnet, auf den Balkon etwas holen geht, und wenn ich sie fotografiere.
Heute umrahmt ein schwarzes Tuch ihr Gesicht und hebt die grossen dunklen Augen hervor.

Sie wechseln ein paar Worte. Ihre Gespräche verstehe ich nicht. Es sei ein Gemisch aus Arabisch und Persisch, erklärt sie mir. Sie lacht heute viel. Ihre Augen sind diesmal nicht von Schatten umgeben. Sie scheinen sogar ein bisschen zu funkeln, wie die ihres Sohnes - tief schwarz, gross und das Funkeln.

Wir laden ihre Fotos auf meinen USB-Stick, als sie das Zimmer verlässt und zu ihm in die Küche geht. Ihre Schritte sind schnell, entschlossen. Sie spricht etwas schneller als sonst und lauter, als sie zu ihm etwas sagt. Verstehen kann ich sie nicht. Er wird auch laut und spricht auch schnell und noch lauter.

Dann knallt eine Tür ins Schloss.
Stille.
Dann Wasserrauschen im Bad.
Stille.

Sie kommt wieder in das Zimmer. Die Bilder sind auf dem Stick. Ich blicke sie an. Sie ist wieder blass, fast durchsichtig. Das Funkeln in den Augen, das ich vor weinigen Minuten zu erahnen glaubte, ist verschwunden. Sie wirken verschlossen und dunkle Schatten umrahmen sie. Helles Blut an ihrer Unterlippe. Sie wischt es immer wieder weg, das helle Blut.

Sie sagt nicht mehr viel, wischt nur immer wieder Blut weg.
Und ich sage nichts.

Ich gehe zurück - in meine Welt - und habe nichts gesagt.
Nichts.
Ich bin nichts, als eine stumme Zeugin - eine stumme Zeugin der dunklen Schatten um ihre Augen und des Blutes, des hellen Blutes...

Donnerstag, 15. April 2010

Lieber Thomas - weitere Gedanken über die Liebe

Wie du vielleicht schon bemerkt hast, liegt es mir nicht so, romantische Sätze über die Liebe zu schreiben, aber trotzdem hat mich deine Frage angeregt über das Thema nachzudenken. Wie allgemein bekannt ist und in meinem vorhergehenden Text angetönt wurde, geht die Liebe durch den Magen, und nach dem Magen kommt, ebenfalls bekanntlich, der Darm.
Da ich gerne Zwiebeln in meine weisse Sauce mische, und Zwiebeln im Darm ein explosives Resultat erzeugen, liegt es nahe, über Fürze zu schreiben. Liebe und Fürze haben nämlich, zu mindest in meinen Augen, viel miteinander zu tun.
Als Kleinkinder furzen wir hemmungslos. Irgendwann lernt mensch dann, dass ein Furz etwas Unanständiges ist - besonders für Frauen.
Frauen furzen nicht. Sie furzen nicht in der Öffentlichkeit, zumindest nicht laut. Manchmal furzen sie leise, dann ist aber der Absender schlecht auszumachen, und sie kann immer noch den Mann neben ihr beschuldigen. Auf öffentlichen Toiletten hört man manchmal auch Frauenfürze, wie sie hohl in der Kloschüssel hallen. Dann bleibt aber die Tür der Toilettennachbarin so lange verschlossen, bis niemand mehr da ist, und sie ungesehen verschwinden kann.
Männer hingegen - nicht alle, aber viele - furzen. Sie furzen laut und fast überall. Sie führen Gespräche und furzen dazu - verquetschte Töne, wenn sie sitzen und vibrierend hohle, wenn sie stehen und ihre Pobacken nicht anspannen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Nur selten werden diese Geräusche mit Aufmerksamkeit taxiert - und sie freuen sich auch noch wenn sie würzig Düfte erzeugen.
Freunde haben zu mir gesagt, als ich sie auf die Furzerei angesprochen habe, ich solle doch auch einfach meine Scham abstreifen und ungehemmt einen fahren lassen.
Ich habe mir diese Worte zu Herzen genommen, und irgendwann, als genügend Vertrauen meinerseits vorhanden war, habe ich es getan - ich habe gefurzt, laut vor meinen Freunden. Sie waren in ein Gespräch vertieft, aber als sie meinen Furz hörten, sind sie alle verstummt, alle! Und sie haben mich angeschaut, als wäre ich soeben aus einem Raumschiff ausgestiegen. Aber ich wusste in diesem Moment, dass ich ihnen vertraue.
Fürze haben also mit Vertrauen zu tun.
In den ersten drei, vier Beziehungsmonaten, in der Rosa-Brillen-Zeit furzt man noch nicht, nicht laut und auch nicht leise, zumindest frau nicht - nicht oder noch nicht. Frau verquetscht sie lieber und riskiert Bauchschmerzen. Dann legt frau aber auch noch Toilettenpapier in die Kloschüssel, damit man das Plätschern nicht hört, beim Wasserlösen, wohlgemerkt...
Nach dieser Zeit aber, wenn das Vertrauen da ist, sollte auch frau bald einmal mit furzen anfangen. Ich habe es getan, ziemlich bald. Einen erstaunten Blick habe ich schon geerntet. Ich habe ihm aber damit mein Vertrauen bewiesen. Das habe ich ihm auch gesagt.
Und, lieber Thomas, ist Vertrauen nicht ein Liebesbeweis?
Er seinerseits, hat mir seine Liebe bewiesen, indem er meine Furzerei akzeptiert hat.
Und, lieber Thomas, ist Akzeptanz nicht ein Teil der Liebe!?
Ich meine, es gibt noch heute Männer, die finden, Frauen hätten nicht zu furzen, das sei unanständig, das sei nicht damenhaft... Aber so einen wollte ich nie - zu verkrampft in seiner Einstellung.
Deshalb ist meine Devise, lieber zu früh furzen und den unpassenden Mann schnell wieder loswerden, weil zu unemanzipiert, zu kompliziert. Und wenn er sie schon früh mit ihren Fürze annimmt, ohne Beifall zu klatschen, aber auch ohne die Töne beschämt zu ignorieren, sondern sie im besten Fall mit einem trockenen Spruch kommentiert, dann muss er der Richtige sein, dann muss es Liebe sein...

Über Löcher und die Liebe - für Thomas, der wissen wollte, was Liebe ist

Hunger ist ein Gefühl, als wäre anstelle eines Organs ein Loch, und wenn irgendwo ein Loch ist, wo keines sein sollte, dann stopft man es. Man nimmt passendes Material und füllt es in das Loch, bis da, wo das Loch war, keines mehr ist. Ein bisschen Brot, ein Stück Käse, zwei getrocknete Tomaten, eine handvoll Nüsse und weg ist das Loch.
Ich habe nie gerne gekocht. Am liebsten habe ich vor dem Kühlschrank zuerst meinen Teller, dann immer noch vor dem Kühlschrank meinen Magen gefüllt.
Manchmal hat jemand für mich gekocht. Meine Schwester, meine Mutter, oder er hat gekocht. Natürlich hat dieses warme Magenstopfmaterial um Längen besser geschmeckt, als der kalte Kühlschrankemmentaler und das vertrocknete Brot. Und ich habe auch immer gerne zugeschaut, wenn sie gekocht haben. Das Messer blitzte auf und ab und klopfte auf den Tisch, das siedende Wasser liess eine Nebellandschaft in der Küche entstehen und die Fischaugen sprangen aus den Augenhöhlen, als wären es Gummibälle.
Manchmal habe ich dann die Zwiebeln geschnitten, bis mir das Augenwasser die Sicht nahm oder eines meiner Fingerbeeren blutete. Dann habe ich wieder zugeschaut, und manchmal habe ich dann fotografiert. Ich habe viele Bilder, wie Essen zubereitet wird - fast so viele wie Wolkenbilder -, weisse Flüssigkeit, die in einen silbernen Topf läuft, Ölaugen vor schwarzem Teflon-Hintergrund, Hände, die geschickter als meine Zwiebeln in kleine Würfeln zerteilen und rote Krebse auf gelbem Tischtuch. Dann habe ich den Tisch gedeckt.
Und es hat geschmeckt - sehr gut hat es geschmeckt.
Irgendwann war er aber weg und hat nicht mehr für mich gekocht, und ich habe mich ausschliesslich vor dem Kühlschrank ernährt - mit Ausnahmen natürlich.

Die Bernsteinhonigaugen strahlen golden. Sie strahlen besonders golden, wenn er am Essen ist, wenn er ein Entrecôte zerteilt und den Bissen in seinen Mund schiebt. Und ich mag seine Augen, besonders wenn sie golden strahlen. Also muss ich kochen, dachte ich. Ich muss einfach kochen, dann strahlen sie schön golden.
Mit einem Kochbuch im orangen Einkaufskorb irrte ich durch die Regale, bis ich alle Zutaten hatte, die ich zum Lochfüllmaterial und Strahleaugenerzeuger verarbeiten wollte.
Mittlerweile habe ich bestimmt schon fünfzehnmal gekocht - Gnoggi mit weisser Sauce und ein Fleisch. Wein gibt es dazu, roter Wein in bauchigen Gläsern.
Und ich glaube, lieber Thomas, ich glaube, das muss Liebe sein, dass ich koche und er seine Augen golden für mich strahlen lässt, wenn er meine weichen Gnoggi verdrückt, das muss Liebe sein...

Freitag, 9. April 2010

An die Zeit

Stundenlang habe ich vergessen. Stundenlang habe ich dich vergessen, Zeit.
Ich sass da und schrieb. Das Gedachte floss, und es flog in einer Leichtigkeit, als wären Gedanken Federn direkt in meine Hand, aufs Papier. Und es las sich auch noch schön.
Ich las.
Ich vergas.
Ich vergas und schrieb es, schrieb bevor es verloren war in der Leere des Raums, auf das Papier.
Einige Worte wurden geändert, verformt - gleich im Moment oder später.
Dann las ich es wieder, ganz zufrieden. Es war nun geschrieben, der vergessene Gedanke, bevor er sich verlieren konnte. Ich konnte beruhigt alles löschen aus meinem Kopf. Es war auf Papier - und las sich auch noch ganz schön.
Es war jetzt wirklich. Es schien keine Illusion mehr, als könnte man sie anfassen, die Gedanken.
Da stand es - mit dem Rücken zur Vergangenheit.
Und ich konnte in die Zukunft blicken, voller Hoffnung.
Das macht glücklich.
Gerne hätte ich Dinge verändert, die waren, aber ich hatte den Rücken dem Vergangenen zugewandt und wurde getrieben in das Kommende.
Das macht glücklich.
Und dann kam es - das Glück.
Und ich konnte nicht mehr vergessen. Ich konnte dich nicht vergessen, Zeit.
Und es schrieb sich nicht mehr. Es schrieb sich nicht mehr und las sich nicht mehr gut. Das Gedachte blieb in der Zeit stecken.
Sie flossen nicht mehr. Sie flogen nicht mehr, wie Federn leicht in meine Hand – die Gedanken. Sie wurden zum Jetzt. Sie wurden zu Stein, weil sie glücklich waren im Jetzt und wollten nicht mehr das Vergangene verändern, und es war ihnen auch egal, was kommen würde.
Stillstand.
Alles stand still.
Da waren schöne Sätze. Da waren noch schöne Sätze. Aber sie waren allein. Sie fügten sich nicht mehr ineinander, wollten kein Ganzes mehr formen. Sie wollten nur noch sein.
Aber nur ein Ganzes ist schön.
Nur das Ganze hat glücklich gemacht, hat auf das Glücklich hoffen lassen.
Jetzt ist es da, das Glücklich.
Aber das Glücklich macht unglücklich.
Das Glücklich im Jetzt, lässt das Vergangene in seiner Vergangenheit ruhen und kann nicht mehr hoffen, weil alles schon da ist, was gehofft wurde.
Es bedeutet Stein.
Es bedeutet Stillstand.
Es bedeutet den Moment festgehalten zu haben, wie ein Bild - was ich immer wollte.
Glücklich ist unglücklich ohne die Zeit.
Jetzt kann nur sein, wenn das Vergangene nicht vergessen wird. Dann kann auch noch eine Zukunft kommen.
Und es kann wieder fliessen.
Sie können dann wieder fliessen - die Gedanken, im Jetzt, mit der Zeit.