Dienstag, 3. Februar 2009

Von Felten Welten-Productions* präsentiert

Tamanrasset

Noch bevor die Sonne aufgegangen war, stand sie mit einem Rucksack am Bahnhof. In der einen Hand hielt sie einen Pappbecher mit einer lauen Kaffeebrühe - gut gezuckert - und in der anderen Hand die Zeitung. Sie wusste nicht, wo sie hinreisen wollte. Sie stand am Bahnhof und überlegte noch als ein Zug einfuhr, ob sie an den Flughafen fahren, den nächst besten Flug besteigen - das heisst das billigste Angebot annehmen -, oder ob sie einfach in einen Zug steigen und bis an irgendein Meer fahren sollte. Der Zug fuhr ein. Er fuhr Richtung Brig. In Brig gibt es keinen Flughafen, aber nach Brig kommt Italien. In Italien gibt es ein Meer und es gibt besseren Kaffee, dachte sie, schütte den übersüssten Kaffee unter den Zug und stieg ein. Italien! Ich könnte nach Florenz fahren. Ich war noch nie in Florenz. Ich fahre nach Florenz, dann nach Rom. Entweder nehme ich dann eine Fähre ab Bari nach Griechenland. In Griechenland gibt es wunderschöne weisse Häuser und Oliven, aber der Kaffee schmeckt mir nicht... Dann fahre ich halt weiter durch Italien, dem Kaffee zu liebe. Ich fahre bis nach Kalabrien. Dort haben sie bestimmt auch irgendwo einen Hafen, und von dort schiffe ich nach Afrika, nach Tunesien. Ich durchquere Tunesien und fahre bis nach Algerien, nach Tamanrasset. Da wollte ich schon immer hin. Als ich klein war, habe ich davon geträumt, von der Wüste, von Tamanrasset. Dort will ich hin. Sie sass im Zug. Sie blickte aus dem Fenster, sah zu, wie sich der Thunersee durch die einigermassen schnelle Fahrt in ein impressionistisches Gemälde verwandelte. Sie dachte an die ältere Dame, die ihr von der Wüste erzählt hatte. Die Frau hatte silbernes Haar, wie ein Engel, zwar ein alter Engel, aber ein Engel. Sie hat die Wüste gemalt, gezeichnet - immer wieder. Sie wollte immer in die Wüste gehen, als sie jung war, als sie noch goldene Locken hatte. Sie ging aber nicht, und als sie silbernes Haar hatte, wollte sie nicht mehr gehen. Sie sagte, sie wolle ihren Wüstentraum nicht zerstören. Sie wolle nur träumen, von der Sahara träumen. Irgendwann ist sie gestorben. In der Wüste war sie nie. Vielleicht wird mein Traum zerstört sein, wenn ich in Tamanrasset bin. Ich rieche die Düfte und die sind anders, als ich sie mir mit 13 vorgestellt habe. Ich sehe die Wüstensöhne und sie sind... sie sind doch auch nur Männer. Ich sehe den Sand und vermisse doch wieder nur die Schneeberge. Vielleicht... Als ich 13 war habe ich mir aber versprochen, dass ich nach Tamanrasset reisen würde, irgendwann. Dieses Irgendwann muss irgendwann stattfinden, bevor ich weiss werde und meine Träume nur noch träumen will. Ich mache dieses Irgendwann zum Heute - oder Heute zu Irgendwann.
Sie hätte sich jetzt gerne eine Zigarette angezündet und den blauen Rauch zufrieden durch die Nase ausgeblasen, aber die Züge waren rauchfrei - und war sie nicht eigentlich Nichtraucherin...? Aber eine Zigarette hat etwas siegesicheres, etwas "ich-bin-mir-selbst-genug". Man raucht. Man ist zufrieden, zufrieden mit sich und vor allem zufrieden mit dem Moment. Man macht nichts anderes als rauchen, den Rauch einziehen und wieder ausatmen. Sie zog die abgestandene Luft des Waggons in ihre Lunge, stiess sie gemächlich durch die Nase, als würde sie tatsächlich rauchen, dachte dabei aber an das Gemisch aus hundert verschiedenen Parfümdüften und Schweissgerüchen, an fünfzig nasse Hunde und achzig Schuhe, die in Hundescheisse getreten waren. 2'000 Schweizerfranken hatte sie auf dem Ferienkonto. Mit 2'000 Franken könnte sie sich eine neue Kamera kaufen, einen einigermassen guten Scanner, eine schlechte Blitzanlage, 25 billige Schuhe, fast 4 Monate die Miete bezahlen, oder sie kann sich einen Traum erfüllen. Der Zug fuhr in Milano ein. Sie stand auf, ging zum Ausgang und atmete die Bahnhofluft ein, der Duft der Freiheit. Sie hätte gerne die Arme ausgebreitet und geschrien. Stattdessen lächelte sie einfach. Sie lächelte und stieg aus.
Tamanrasset. Ein Tuch bedeckte ihre Haare. Es war heiss, und es duftete... Es duftete, wie in ihren Träumen. Und da begann die Freiheit, unendliche Wüste, unendlich viel Sand. Das Licht. Es war grell, rötlich grell. Es waren Tränen der Freude, die die Farben vermischen liessen, die blauen Schleier mit dem gelben Sand und dem beige-weissen Sandstein der Häuser, wie auf den Wüstenbildern von Paul Klee. Dann wachte sie auf. Sie öffnete die Augen nur zögerlich und schloss sie gleich wieder, weil das Licht in ihren Augen brannte. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie blickte an eine vergilbte Decke, sah die rosarote Stofflampe, ihre Lampe. Zu Hause, sie war zu Hause. Sie kniff ungläubig die Augen zusammen. 2'000 Franken, dachte sie. 2'000 Franken muss ich auf mein Ferienkonto einzahlen. Der Scanner kann warten. Ich muss einen Traum erfüllen, meinen Traum, beschloss sie, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Sie versuchte die Farben wieder zu finden, die Farben ihres Traums.


* Von Felten Welten-Productions: Ein Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten

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