Dienstag, 24. März 2009

Von Felten Welten-Productions* präsentiert

Aufstehen und gehen
- für dich

Ich sitze hier mit dir an diesem rot-braunen Tisch, trinke Kaffee und esse trockene Grissini. Eigentlich sitze ich immer hier mit dir an diesem rot-braunen Tisch, trinke Kaffee, esse trockene Grissini und meine ich hätte eine Vergangenheit und eine Zukunft. Weisst du noch, dieser kleine, orange Krebs, der dich in den grossen Zeh geklemmt hat? Fragst du. Natürlich weiss ich das noch. Ich habe laut aufgekreischt und bin wie eine wild gewordene Furie umher gerannt, als ich das freche Tier gesehen habe, obwohl es nicht weh getan hat. Überhaupt nicht. Ich wollte nicht mehr an den Strand liegen - den ganzen Nachmittag nicht mehr. Dann würde ich halt nicht braun werden. Dann würde ich halt ganz weiss aus den Ferien nach Hause kommen. Egal. Ich wollte einfach nicht mehr zu diesen klemmenden Viechern in den Sand liegen. Du hast auf mich eingeredet, und es hätte fast einen Streit gegeben, weil du mich inkonsequent genannt hast, als ich mich dann doch wieder an den Strand gelegt habe, schon am nächsten Tag. Inkonsequent, hast du mich genannt. Inkonsequent sei absolut unzutreffend. Lernfähig sei angemessener. Man nenne einen Menschen lernfähig, wenn er etwas tut, wovor er Angst habe, habe ich geantwortet. Natürlich erinnere ich mich daran - ich glaube mich daran zu erinnern - aber in Wirklichkeit sitze ich immer hier mit dir an diesem rot-braunen Tisch trinke Kaffee, esse trockene Grissini, immer, gefangen in einer Zeitschlaufe, die niemals endet.
Ich bin heute Morgen aufgestanden, habe mich über den Regen geärgert, habe geduscht, die Wäsche gemacht und sie später aufgehängt. Dann bin ich in das Café gegangen, habe einen Cappuccino bestellt und auf dich gewartet. Du warst zwanzig Minuten zu spät - wie immer. Ich mag Unpünktlichkeit nicht. Das weisst du. Eigentlich gibt es kaum Gründe, unpünktlich sein zu dürfen, finde ich. Ich war ein bisschen wütend, aber nicht richtig. Ich kenne dich ja. Du und fast alle deine Freunde sind unpünktlich. Wenn man sich um acht verabredet, braucht man nicht vor halb neun am Treffpunkt zu sein. Ich habe die Kellnerin gebeten, mir Grissini zu bringen und habe das Buch aufgeschlagen, das letzte Kapitel - ein unerwartetes Ende. Er ist doch nicht gestorben. Der Erzähler hat in die Handlung eingegriffen, wie ein Gott und hat den Protagonisten von der tödlichen Krankheit erlöst. Eine erstaunliche Idee. Ich mag solch unlogische, unerwartete Enden. Du bist genau in diesem Moment durch die Türe getreten, als ich das Buch zu geklappt habe. Ich habe noch über das Ende gelächelt, an einem Grissini geknabbert und zur Türe geschaut. Deine Augen sind suchend durch das volle Lokal gewandert. Ich habe mich extra nicht bemerkbar gemacht. Ich wollte dich noch ein bisschen bestrafen, für deine Unpünktlichkeit. Du hast gar nicht nach einer Entschuldigung gesucht. Du hast dich einfach gesetzt und gelächelt. Du wusstest, dass es gar keinen Sinn hätte. Ich würde die Ausrede nicht akzeptieren, und es würde nur zu einer endlosen Diskussion führen, über Ausreden, Respekt und wahrscheinlich im Thema Ehrlichkeit gipfeln. Also besser gar nichts sagen. Wir haben beide noch einen Cappuccino getrunken und dann zwei Espresso mit einem Glas Wasser, ein gewaltiges Glas Wasser. Wir haben gelacht, über die Grössenverhältnisse zwischen dem Glas und der kleinen Espresso-Tasse, daneben. Wir haben über unsere Pläne gesprochen, über unsere Pläne für die Zukunft und über Vergangenes. Wir haben uns erzählt, was wir erlebt haben, wo wir waren und was wir möchten. Irgendwann bist du aufs Klo gegangen oder hast Zigaretten geholt. Als du dich wieder an den rot-braunen Tisch gesetzt hast, hat es angefangen. Ein unangenehmes Gefühl. Ich habe begonnen, mich zu fragen, ob du jetzt überhaupt weg warst. Ich habe mich gefragt, ob wir jemals irgendetwas anderes getan haben, als zusammen an diesem Tisch zu sitzen und über Dinge zu sprechen, die entweder schon vorbei sind, oder noch gar nicht angefangen haben. Es war ein bisschen wie ein Déjà-vu, aber es war keines. Es war mehr so ein Gefühl, als würden wir uns in einem Zeit-Looping befinden, als hätten wir noch nie etwas anderes getan und würden nie etwas anderes tun, als hier einander gegenüber sitzen, vor einem halbvollen Kaffee und trockenen Grissini, an einem rot-braunen Tisch. Der Kaffee würde nie kalt werden, die Grissini würden wir nie aufessen, weil es immer jetzt bleibt, und in diesem Jetzt ist der Kaffee heiss. Wir würden einfach immer hier sitzen bleiben, wie wir schon immer hier sassen, und wir würden schweigen. Ich würde darüber nachdenken, ob ich schon immer hier sitze, immer, und was du denkst, das weiss ich nicht. Das wusste ich nie, und ich würde es nie wissen... Ich habe den Kaffee extra lange stehen gelassen, damit er kalt wurde, um mir zu beweisen, das die Zeit doch vergeht, dass es nicht nur dieses unbewegliche Jetzt gibt, das Jetzt mit dir hier an diesem Tisch. Ich habe die Tasse an meinen Mund geführt, habe einen Schluck genommen. Der Kaffee war kalt! Vielleicht war der Kaffee aber schon immer kalt, und ich habe mir nur die Situation vorgestellt, dass ein heisser Kaffee vor mir steht, den ich jetzt nicht trinken darf, um herauszufinden, ob die Zeit vergeht. Mein Gehirn spielt mir Streiche, um mich zu verwirren - immer stärker. Je mehr ich das Zeiträtsel auflösen will, beenden will, entgleiten mir die Beweise. Es gibt keinen Beweis, dass ich nicht immer nur da bin, wo ich jetzt gerade bin und mir nur vorstelle, dass ich jemals etwas anderes getan habe, dass ich jemals etwas anderes tun werde. Ich sitze hier mit dir an diesem rot-braunen Tisch, trinke Kaffee und esse trockene Grissini. Ich stehe auf und gehe, um die Zeitachse wieder in Bewegung zu bringen. Aber wer sagt, dass ich nicht immer gerade am aufstehen bin, am aufstehen und gehen...?


* Von Felten Welten-Productions: Ein Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten

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