Samstag, 6. Juni 2009

von Felten Welten-Productions* präsentiert

Ein Buch, ahornbraun im Frühherbst

Es ist so schön. Es ist braun. Es ist in braunes Leder eingefasst. Ein schönes Braun, dezent, wie Ahornblätter im Herbst, im Frühherbst. Am Rücken hat es goldene Streifen, fünf goldene, horizontal verlaufende Linien - feine Linien. Es ist ihr sofort aufgefallen, zwischen all den anderen Bücher mit aufdringlichen Schriften und glänzenden Umschlägen. Sie hat nach dem braunen Buch, dem frühherbstlichen Ahornblätter-Buch gegriffen. Es ist auch nicht so dick. Dicke Bücher erschlagen einen, findet sie, erdrücken einen, bedrohen - zu viele Worte, zu viele Sätze. Sie hat es auf der ersten Seite aufgeschlagen und las den ersten Satz. Dann hat sie Seite 73 aufgeschlagen, etwa die Mitte des Buches. Sie hat gelesen, einen Satz, vielleicht zwei. Und dann noch die letzte Seite, den letzten Satz. Sie findet, wenn diese drei Sätze stimmen, wenn diese drei Sätze überzeugen, ist das Buch gut. Der Titel ist nicht so wichtig - der Titel nicht, der Schriftsteller nicht, aber der erste Satz muss überzeugen, muss beeindrucken. Er muss überraschen. Er muss auffordern. Sie mag kurze Sätze, viele kurze Sätze nacheinander, und dann ein langer Satz, vielleicht zwei lange Sätze, dann wieder kurze, viele kurze. Viele Punkte. Manchmal Kommas, aber keine Ausrufezeichen. Ausrufezeichen mag sie nicht! Die unterstreichen unwichtige Aussagen. Wichtige Aussagen überzeugen auch ohne Ausrufezeichen, findet sie. Fragezeichen hingegen mag sie gerne - besonders am Ende einer Seite. Das sieht schön aus, nicht? Aber von allen Zeichen mag sie am liebsten den Gedankenstrich. Der lässt Zeit. Er setzt eine Pause. Er unterbricht. Er ist schön - sehr schön. Und kursive Schrift, ab und zu kursive Schrift. Das braune Lederbuch hat alles, wonach sie sich sehnt. Es ist schön. Es ist nicht zu dick. Es hat einen eindrucksvollen Anfangssatz und einen überszeugenden letzten Satz. Dazwischen gibt es viele kurze Sätze, unterbrochen von langen, und es gibt schöne Wiederholungen. Es hat kaum Ausrufezeichen, einige Fragezeichen - an den richtigen Stellen gesetzt - und Punkte, viele Punkte. Viele Punkte. Sie hat das Buch gekauft. Sie hat es in ihr Bücherregal gestellt. In das Bücherregal, in das nur die schönen Bücher kommen, das Bücherregal im Wohnzimmer - das sehen alle Gäste. Da stehen nur die schönen Bücher und die mit den wichtigen Titel (zum Beispiel Klassiker, Faust, Don Quijote, einige Lexika und Wörterbücher). Bücherregale, findet sie, sagen viel über einen Menschen aus. Sie können aber auch lügen. Lügen können sie gut! (Dieser Satz braucht ein Ausrufezeichen, sonst überzeugt er nicht, findet sie...) Das Buch steht also dort im Bücherregal im Wohnzimmer. Es sieht schön aus, das Buch mit dem überzeugenden Anfang, dem wunderbaren Endsatz, den vielen Punkten, den wenigen Ausrufezeichen und dem klaren Satz auf Seite 73. Sie holt es oft hervor, oft wenn sie alleine im Wohnzimmer sitzt und nach Gedanken sucht. Es fühlt sich weich an, das braune Leder mit den fünf goldenen Linien auf dem Rücken. Es fühlt sich gut an in ihren Händen - dünn, weich. Den Titel hat sie sich immer noch nicht gemerkt. Er steht nicht auf dem Rücken, wie bei all den anderen Büchern. Das mag sie besonders am Buch. Es ist so unaufdringlich schön. Sie holt es aus dem Regal. Sie schaut es an, fühlt es, schlägt die erste Seite auf, dann die letzte, manchmal Seite 73. Dann schliesst sie es wieder, fühlt es noch einmal und stellt es zurück zu den anderen schönen und schlauen Bücher im Wohnzimmerbücherregal. Sie hat es nicht gelesen. Sie spart es auf. Es soll das letzte Buch sein - das letzte, das sie lesen wird, das allerletzte, das beste, das schönste, das wichtigste. Das braune Lederbuch - braun wie Ahornblätter im Herbst, wie Ahornblätter im Frühherbst.

* Von Felten Welten-Productions: Ein Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten

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