Dienstag, 7. Juli 2009

Von Felten Welten-Productions* präsentiert

Das Bild hängt schief

Auf dem blau-weissen Lampenschirm liegt grauer Staub. Das Geschirr stapelt sich im Spülstein. Staubklüngel schweben, beim Vorübergehen in die gegenüberliegende Ecke. Ein modriger Geruch zieht sich durch die düsteren Gänge. Das Bild hängt schief. Stimmt nicht. Stimmt alles nicht. Aber es klingt irgendwie besser als, wenn alles sauber und schön ist. Wenn alles sauber und aufgeräumt ist, kann man sich nicht ärgern, aber man kann auch nichts erzählen. Natürlich könnte man, aber es klingt langweilig. Es klingt zu wenig mystisch, zu wenig dramatisch, zu wenig depressiv. Depressive Sätze klingen anziehender, klingen lesenswerter, findet sie. Das Bild hängt schief. Das Bild, das hängt wirklich schief, aber es hängt extra schief. Es hängt schief, weil es ein schöner Satz ist. Das Bild hängt schief. Genau mit diesen Worten fängt das Buch an, welches sie gerade liest. Das Bild hängt schief, las sie vor zwei Tagen und musste lächeln. Sie las den Satz noch zweimal, liess die Worte regelrecht auf der Zunge schmelzen, wie schwarze, leicht süsse Bitterschokolade und stand dann auf. Bevor sie den nächsten Satz lesen konnte, stand sie auf und hängte ihr eigenes Bild an der Wand hinter dem mausgrauen Sofa schief. Eigentlich hasst sie es, wenn Bilder schief hängen. Aber um des wunderschönen Satzes Willen hat sie ihr Sofabild schräg gehängt. Sie musste nur ein bisschen an einer Ecke ziehen und schon hing das Bild, wie es nicht hängen sollte. So ist das Leben interessanter, findet sie. Schon am Morgen: Man steht auf, wenn das Licht durch die Vorhänge, die purpurroten Vorhänge, in das saubere Zimmer scheint. Alles aufgeräumt, alles sauber, aber das Bild hängt schief. Ein Schreckmoment! Aber ein schöner Schreckmoment. Das rüttelt sie auf, in dieser sauberen Stadtwohnung. Das Bild hängt schief - und die Scheiben sind ein bisschen schmutzig, noch etwas gelblich verspritzt vom Frühlingsblütenstaub - und das Bild... Sie könnte es gerade rücken. Sie bräuchte nur fünf Schritte bis zum mausgrauen Sofa, dann eine Bewegung, und das Bild würde wieder gerade hängen. Sie könnte sogar zuerst noch die Wasserwaage aus dem Putzschrank holen. Der liegt sowieso auf dem Weg vom Bett zum Sofa. Dann würde das Bild mit grösster Wahrscheinlichkeit wieder im Lot sein. Das Bild hängt gerade, könnte sie dann denken, einmal denken, weil zweimal denkt man das nicht das Bild hängt wieder gerade - nie. Und zudem wäre dieser Satz verloren, mit dem sie so gerne lebt. Das Bild hängt schief. Ein einziger Satz, vier Worte können ein Leben so viel spannender machen, findet sie. Vier Worte können einem Menschen so viel Freude schenken. Worte. Wundervoll. Was genau diese vier Worte aneinander gehängt so schön machen, weiss sie nicht genau. Ich auch nicht. Vielleicht ist es die Tatsache, dass man sich so oft über schräg gehängte Bilder ärgert. Das tut man doch? Vielleicht ist es auch, weil ein Buch nicht mit einer solchen Nebensächlichkeit anzufangen hat. Das lernte man noch in der Schule, damals. Heute ist aber vieles anders, schon heute ist vieles anders. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass schief an sich schon ein unübertreffbares Wort ist. Oder liegt es am Wort Bild? Jedenfalls hört man den Satz, oder man liest ihn, und sogleich sieht man vor seinem inneren Auge ein schiefes Bild an einer Wand hängen, an einer vergilbten Wand ein farbiges Gemälde. Es wird ein Bild durch einen einzigen Satz - in diesem Falle gleich durch den ersten Satz des Buches - erzeugt, und gleichzeitig ist es ein Bild von einem Bild, einem schiefen Bild. Eine Bild-in-Bild-Vorstellung. Wundervoll. Es gibt noch andere solche Sätze, andere so wunderschöne Sätze, mit denen man ein Buch beginnen könnte, also eigentlich eben kein Buch beginnen sollte, keine Aufsätze beginnen sollte. So war es doch in der Schule. Mit den schönen Sätzen fängt man nicht an. Die sind nebensächlich - aber schön, nebensächlich schön. (Also eigentlich, finde ich, ist schön immer nebensächlich und nebensächlich eben oft schön - so nebenbei.) Aber allem voran bin ich irgendwie froh, dass ihr Buch mit dem schiefen Bild angefangen hat. Man stelle sich vor, das Buch - übrigens ein Krimi - hätte mit dem ebenfalls wunderschönen Satz das Wasser plätschert auf den leblosen Körper angefangen. Uiuiui...

* Von Felten Welten-Productions: Ein Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten

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