Donnerstag, 27. November 2008

Von Felten Welten-Productions* präsentiert

In Memoriam Bo, Ibbo, Zauber-Bo & Michael

Gestern war ich beim Hautarzt. Das Muttermal am Bauch hat sich immer wieder entzündet, seit Jahren - besonders im Winter, wenn die vielen Kleiderschichten daran gescheuert haben. Ich habe es Dr. Kunz gezeigt. Es sei ein harmloses Mal, hat er gemeint, aber er könne es schnell entfernen und jetzt gleich. Jetzt gleich? Tut das nicht weh? Habe ich gefragt. Das ist eines meiner Lieblingsmuttermale, es heisst Zauber-Bo. Habe ich gedacht.

Als ich drei Jahre alt war, haben meine Freunde Stöffi, Thommi, Chligi, Maac, Andlea und Jan geheissen. Und dann hatte ich noch unsichtbare Freunde. (Hat eigentlich jedes Kind unsichtbare Freunde?) Meine unsichtbaren Freunde - ich hatte deren Vier - hiessen Bo, Ibbo, Zauber-Bo und Michael. Eigentlich waren sie gar nicht unsichtbar. Es hat sie einfach nie jemand anderes gesehen. Ich weiss nicht mehr viel von ihnen. Sie waren meine Freunde, meine Brüder, Söhne. Ich habe ihnen leere Teller zum Hauseingang gestellt, orange und gelbe Plastikteller, damit sie ungestört von Erwachsenen essen konnten, und ich weiss noch, dass Zauber-Bo zaubern konnte. Einmal, als er wütend war, hat er mich in Nyffenegger’s Garage gezaubert, in die dunkle Garage unserer Nachbarn. Darin hatte es Eulen mit giftig gelben Augen, die mich aus der Dunkelheit angefunkelt haben. Sie wollten mir mit ihren Krallen die Augen ausstechen. Zauber-Bo hat abgeschlossen, das Tor und die Seitentür. Ich hatte grosse Angst und war wütend über Zauber-Bo. Die anderen drei wollten mir helfen, aber sie konnten nicht, weil sie nicht zaubern konnten. Ich auch nicht. Ich musste warten, bis mich jemand befreit hat. Bis zu diesem Vorfall habe ich sie alle vier gemocht, jeden auf seine Art. Bo war einfach Bo, der Älteste. Ibbo und Michael waren beide schüchtern, aber Zauber-Bo wurde immer aufmüpfiger. Wenn es nicht nach seinem Kopf ging, hat er mich einfach weggezaubert oder er hat meine Spielsachen geklaut - natürlich auch durch Zauberei. Zum Beispiel hatte ich drei Holzfiguren, zwei gelbe mit schwarzen Haaren und eine graue mit braunen Haaren. Marcä habe ich sie alle drei genannt (was wahrscheinlich das Plural von Marc sein soll, Anm.d.Red). Auf einmal waren nur noch zwei Marcä da. Jahre später, als Zauber-Bo schon längst über alle Berge war, hat meine Grossmutter diesen gelben Marc im Garten ausgegraben. Die Figur war abgeschabt und verblichen. Ich habe sie mit Filzstiften wieder angemalen, aber richtig schön wurde dieser Marc nie wieder... Mir war sofort klar, dass musste Zauber-Bo gewesen sein, der meinen Marc in die Erde gezaubert hat. Wie sonst kommt eine kleine Holzfigur in ein Gemüsebeet? Zauber-Bo wollte mich ärgern. Er war schon immer der frechste, aber am Anfang hat er die Zauberei positiv für mich eingesetzt - dafür habe ich ihn ursprünglich erfunden - aber das Ganze ist mir manchmal aus dem Ruder geraten, besonders als sie älter wurden, als ich älter wurde. In diesen Momenten habe ich die Idee mit der Zauberei verflucht. Bo, Ibbo, Zauber-Bo und Michael waren nicht immer bei mir. Sie waren plötzlich da, und genau so schnell, wie sie gekommen waren, konnten sie auch wieder weg sein. Sie kamen nur, wenn ich alleine war. Wenn andere Menschen in meiner Nähe waren, egal ob Erwachsene oder andere Kinder, haben sie sich versteckt und Zauber-Bo hat sich unsichtbar gemacht. Deshal habe ich ihr Verschwinden zuerst gar nicht bemerkt. Irgendwann sind sie einfach nicht mehr gekommen. Sie waren weg - alle vier. Als mir ihre Absenz bewusst geworden ist, war mir sofort klar, dass sie nie wieder zurückkommen würden. Ich habe sie aber nie vermisst. Ich habe an sie gedacht, manchmal, mich etwas leer gefühlt ohne sie. Aber vermisst habe ich sie nicht. Sie sind gegangen, als sie genug alt waren, um zu sich selber zu schauen. Sie sind gegangen, als ich genug alt war, ohne sie auszukommen. Oder habe ich sie selber weggeschickt?

Zu ihrer Erinnerung habe ich dann meine Lieblingsmuttermale nach ihnen benannt. Damit sie wissen, dass ich an sie denke. (Blöderweise hatte ich nur drei Lieblingsmuttermale und eigentlich vier unsichtbare Freunde... Wenn aber einer der Vier Verständnis für diese missliche Lage haben würde, dann war es Michael. Das war mir klar. Und ausserdem gibt es Menschen mit dem Namen Michael wie Sand am Meer, was man von Bo, Ibbo und Zauber-Bo nicht gerade behaupten kann. Deshalb gibt es kein Muttermal mit dem Namen Michael.) Das Muttermal neben meinem rechten Auge heisst nun also seit diesem Tag, seit etwa 24 Jahren Bo. Das über meinem rechten Mundwinkel heisst Ibbo und das am Bauch ist Zauber-Bo.

Jetzt lag ich auf den Schragen. Ich habe mich nicht getraut Dr. Kunz zu sagen, dass ich an diesem Muttermal hänge. Was hätte ich sagen sollen? Sie dürfen Zauber-Bo nicht entfernen, das ist mein Lieblingsmuttermal. Ich will mich zuerst noch verabschieden. Dr. Kunz hat mir alles erklärt (dass er es zuerst betäubt und dann erst wegschneidet, wenn es nichts mehr spürt). Ich habe noch einmal nach unten geschielt. Ich habe es noch einmal berührt, als niemand geschaut hat. Eine brennende Spritze stach unter die Haut, unter das Mal, unter Zauber-Bo. Die Haut ist angeschwollen zu einem Hügelchen. Ein Skalpell schnitt die dunkle Erhebung weg. Es wurde ausgelöscht, er wurde ausgelöscht. Da wo einmal Zauber-Bo war, ist jetzt eine Wunde, ein Loch. Ich habe mich nicht getraut Dr. Kunz zu fragen, ob ich Zauber-Bo mitnehmen darf, in einem Glas wie die ersten ausgefallenen Zähne. Was hätte ich sagen sollen? Ich will die sterblichen Überreste vom Zauber-Bo-Muttermal in einer kleinen Urne mitnehmen. Und jetzt liegt das Mal irgendwo in einem Abfallsack. Wahrscheinlich ist es tot. Ehrlich gesagt, glaube ich nämlich nicht, dass ein Mal ohne Mensch weiterleben kann. Aber wahrscheinlich ist Zauber-Bo sowieso schon damals gestorben, als ich vier war und er verschwunden ist, und das Muttermal war längst nur noch ein Mahnmal, Mahnmale für die drei Bo's. Jetzt ist die Wunde - später die Narbe - das Mahnmal an das Zauber-Bo-Muttermal-Mahnmal. Trotzdem, ich fühle mich etwas leer ohne Zauber-Bo, fast so, als hätte er mich gestern noch einmal verlassen.


* Von Felten Welten-Productions: Ein Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten

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