Montag, 1. Dezember 2008

Von Felten Welten-Productions* präsentiert

Nei, Nei, Nei

In der einen Hand die neuen Bilder und die hundert kleinen Hefte mit der Geschichte zu den Bildern, gut verpackt in einer Plastiktüte, in der anderen Hand die Trainingstasche und einen duftenden Gemüsekuchen. Ich bin hungrig an einer Bäckerei vorbei gegangen. Dem Kuchen konnte ich unmöglich widerstehen - auch wenn ich schon beim betreten des Ladens etwas verwirrt überlegt habe, wie ich den während dem Gehen mit zwei bepackten Händen essen sollte. Ich musste den Kuchen haben, so einen warmen, duftenden Gemüsekuchen mit Lauch, Broccoli und Käse. Nun gehe ich also mit knurrendem Magen Richtung Bahnhof, in der einen Hand die Arbeit, in der anderen Hand die Trainingstasche und eben den blöden Kuchen. Nur noch fünf Minuten bis zum Bahnhof, denke ich und mein Bauch faucht zurück. Noch fünf Minuten, dann kann ich abbeissen, versuche ich meinen Magen zu beruhigen, aber das Knurren, das zurückkommt, klingt ziemlich wütend und auffordernd. Ich weiss, ich muss ihn ignorieren und mich meinen Gedanken widmen. Mit Worten ist der Magen nicht mehr zu besänftigen. Die Abstimmungen sind vorbei und es bleibt beim Alten. Mir säge immer nume nei, nei, nei, nei. I gloube, dass es angers grad gar nid geit. Mit Fortschritt hei mirs öpe angers gmeint (Zitat: Männer am Meer, 2x Nei) Die Hälfte der Kiffer hat vergessen abzustimmen. Sie haben vergessen, dass das Abstimmungswochenende schon gestern war. Ou shit, isch das jtz scho düre...? Mhm, und die Initiative wurde abgelehnt. Die Kiffer haben vergessen abzustimmen. Sie haben vergessen, dass es in der gestrigen Abstimmung ums Kiffen ging un das das eventuell noch wesentlich sein könnte. Oder war es ihnen egal? Isch mir doch öpe glich, öb ds Kiffe legal oder illegal isch. I kiffe ja so oder so. Ja dann... Oder wir machen es einfach so wie die Polizei gesagt hat, als sie einen 3o jährigen Freund wegen einem Joint mit Handschellen abgeführt haben: Jtz suuffisch eifach eine, zwe meh, anstatt z kiffe! Mhm, das ist jetzt einmal eine progressive Idee. Die Polizei hat die Einnahmen von Bussen auf Ende Jahr doch noch ein bisschen erhöhen können, wir trinken einfach zwei, drei Biere mehr und wenn wir dann auf die offene Strasse kotzen, können sie gleich noch einmal eine Busse einziehen, wahrscheinlich einfach ohne Handschellen. Hauptsache die Droge ist legal. Dann unterbricht wieder das Knurren meines Magens meine Gedanken. Er muss sich immer wieder einmischen. Ich gehe schnurgerade durch das Gedränge in der Stadt und blicke auf den Boden. Ich sehe Menschenbeine, ausweichende Menschenbeine und denke an meine ersten Versuche, mich durch den Bahnhof Zürich zu kämpfen. Ich bin aus dem Zug gestiegen und wollte zur Schule während der Zürcher Rushhour. Menschenkörper spülten auf mich zu, überschwemmten mich. Der überwältigende Menschenfluss aus Menschenkörper drängte mich in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war - zurück nach Zürich West (Altstetten, wo ich gewohnt habe, ist in Zürich West, Anm.d.Red). Ich versuchte auszuweichen, weil ich in die Gegenrichtung schwimmen wollte. Das war kein respektvolles Ausweichen, wie man das vor älteren Menschen tut. Ich wich Menschen jeden Alters aus und mein Ausweichen glich mehr einer Flucht, gleich einem Reh, das dem gefährlich glänzenden Lauf des Gewehrs zu entrinnen versucht. Manchmal bin ich extra nicht ausgewichen - wenn ich in wütender Stimmung war. Das hat aber jedes Mal in einem Desaster geendet: Ein Zusammenstoss, Flüche aus zwei Richtungen (aus Zürich Ost und West) und ich war danach noch wütender als zuvor. Immer musste ich schlängeln. Nie konnte ich den schnellsten, den geraden Weg durch die Masse nehmen. Ich war zu einem Ausweicher geworden. Ein Ausweicher, der weicht vor Gross, Klein, Alt und Jung. Irgendwann - vielleicht nach einem Jahr in der vermeintlichen Hauptstadt der Schweiz - habe ich angefangen diese schier unerträgliche Situation zu analysieren und dabei ist mir aufgefallen, dass die Menschen, die den geraden Weg wählen und durchziehen können, die schauen irgendwo hin, aber nie in die Augen - überhaupt nie in die Augenhöhe - der fliessenden Masse. Ich habe das ausprobiert. Ich habe in den Himmel geguckt, wie der Hans (Hans guck in die Luft, Anm.d.Red). Ich habe nach links geschaut, wenn die Leute von rechts auf mich zuströmten. Ich habe nach rechts geschaut, wenn die Leute von links kamen. Ich habe auf den Boden geschaut und ich sah die Menschenbeine, wie sie wichen. Ich habe auch probiert auf Augenhöhe ins Leere zu schauen. Ich habe den Blick auf Unscharf gestellt, wie wenn ich die verstecken Bilder in das magische Auge finden wollen würde. Auch das hat funktioniert - meistens. Die Menschen haben wahrscheinlich realisiert, dass ich sie nicht wahrgenommen habe, dass ich sie ignoriert habe - wie ich meinen Magen ignoriere. Sie wichen mir aus. Zusammenstösse erlitt ich nur noch selten und nur mit Neulingen im Bahnhof, der nur Rushhours kennt. Die Flüche nach dem Aufprall waren selten Züridütsch, sondern klangen meist nach Berndeutsch (du blöde Gigu - du blöder Penis), Welsch (casse-toi - verzieh dich), Bündnerdeutsch (abfahra - hau ab) oder Deutsch (fick dich ins Knie - schlaf mit deinem Knie), Baslerdeutsch (du blöde Sagg - du blöder Sack) und so weiter und so fort. Ich setze mich auf die Bank auf Perron 2, stelle die Taschen auf den Boden und reisse das Papier vom Gemüsekuchen und will endlich beissen. Das ist ja gar kein Gemüsekuchen. Das ist ein Käse-Speckkuchen. Ich entferne den Speck Stück für Stück (Ich bin Vegetarier). Als ich in den mittlerweile lauen Kuchen beisse, stelle ich mir vor, es wäre der duftend heisse Gemüsekuchen aus meinen Gedanken und denke, mit Ignoranz kommt man weit. Man kann damit Hunger unterdrücken, ein speckloser Speckkuchen in einen Gemüsekuchen verwandeln, Menschen zum Ausweichen zwingen und immer zu allem NEI sagen.


* Von Felten Welten-Productions: Ein Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten

Keine Kommentare: