Dienstag, 13. Januar 2009

Von Felten Welten-Productions* präsentiert

Ingwertee und Honig

Die Landschaft prescht an mir vorbei. Hügel, Häuser, Wälder, Dörfer, Hügel, Dörfer, Felder, Wälder, Schnee, Häuser, Hügel - grau in grau. Ich sitze auf einem meerblauen Sitz mit rotorangem Muster. Neben dem Fenster hängen Vorhänge, die sich der Fahrtbewegung immer etwas verspätet anschmiegen. Sie sind auch rotorange - ein anderes Rotorange, als das des Musters auf dem meerblauen Sitz. Ich sitze in Fahrtrichtung und schaue aus dem Fenster, grau in grau. Noch bin ich so nah an der Schweiz und doch ist alles schon so flach. Mir fehlen schon die Berge, die weissen Berge, denke ich. Noch bin ich so nah an der Schweiz, aber es öffnet sich eine Leere, es öffnet sich Raum. Vorwärts fahre ich aus der Schweiz und denke an Mani Matter - Ir Iisebahn sitze die einte eso, dass si alles, was chunnt scho zum vorus gseh cho und dr Rügge zuechehre der Richtig vo wo dr Zug chunnt...
Es riecht nach Kuba im Eingang der Wohnung. Es muss das Heizöl sein. Es ist kalt. Der Tee ist warm und schmeckt nach Ingwer und Honig. Ich höre Gesang aus dem Badezimmer - Töne, die sich überschlagen, an den hohen Wänden abprallen und sich in einander vermischen, wie Wasserfarben auf nassem Papier. Nass in nass, kalt in kalt, Ingwer und Honig. Der Tee ist warm. Die Bewegungen der Tanzenden sind langsam, sehr langsam, als würde man einen Film in Zeitlupentempo abspielen. Ein Tanz um eine imaginäre Mitte. Ein Tanz ohne Musik, nur der Gesang, der durch die dünnen Wände aus der Dusche in den Tanzraum dringt. Ich lege mich auf den Boden und fange die tanzenden Körper mit der Kamera ein. Meine eigenen Bewegungen haben sich an ihren Rhythmus angepasst - Zeitlupentempo, Kälte und warmer Ingwertee. Die Probe wird beendet mit Atemübungen. Einatmen, ausatmen auf S, nicht mehr einatmen bis der Körper nach Luft zu schreien beginnt. ssssssssss - wie bei einem Orgasmus stöhnen ihre Körper unkontrolliert auf - eine Erleichterung. Ich trinke den Tee aus und betrachte die Bilder auf dem Display. Der Gesang ist verstummt, als wäre er eigens für den Tanz gesungen worden. Nur noch das Plätschern der heissen Dusche durchbricht die Stille. Die Nikon ist glücklich über die fremden Bilder, die sie festhalten durfte - wie ein Hund, der zum ersten Mal am Meer Gassi geführt wird. Sie lacht die dezenten Farben, die kontrollierten Körper in meine Augen. Sie erzählt mir ein Märchen, das ich noch nie gehört habe. Die Nikon will auch noch die Stadt nach Bildern absuchen, sagt sie. Ich gebe ihrem Bitten nach und begleite sie. Sie sucht, sie sucht und schreit, wenn sie ein Bild sieht, das sie einfrieren will. Sie schreit aus der Tasche, bis ich sie auspacke und ihr den Wunsch erfülle. Mit klammen Fingern drücke ich den Auslöser. Kliklack lacht die Nikon. Zusammen streifen wir durch die eisige Kälte. Die Bise durchdringt alle Stoffe und berührt meine Knochen - und den Akku der Nikon. Sie gibt auf, die Nikon. Sie will nicht mehr. Sie will keine Bilder mehr einfrieren, weil sie selber friert, bis auf ihr Herz, ihr Akkuherz. Nun stehe ich da, alleine in der grauen Stadt und fühle mich verlassen - von allen guten Geistern verlassen (auch die Lumix ist am Ende ihrer Kräfte. Die Speicherkarte ist voll). Kino? Tee? Ausstellung? Coiffeur, beschliesse ich. Ich lege meinen Kopf in die Hände der Französin. Sie massiert meine Kopfhaut. Ich schliesse die Augen, weil grelles Neonlicht in auf meine Netzhaut brennt. Ich schaue den farbigen Punkten zu, die hinter meinen Lidern tanzen. Die Massage ist gut. Sie spricht wenig, die Französin. Comme-ça, c'est bon - ouioui... Sie rupft und zieht an meinen Haaren, aber immerhin redet sie kaum. Das ist gut, die Frisur etwas weniger - etwas verschnippelt. Wie Stacheln eines Igels stehen die Haare von meinem Kopf ab. Ich schaue in den Spiegel und erschrecke ein bisschen. Ich denke an Mani Matter. Hundert Igel schauen mich an, und wenn ich den Mund öffne - ouioui - ein ganzer Igelchor. Doch noch Tee in einem "Salon de Thé". Alte und junge Leute sitzen vereint an den runden Tischchen. Alle trinken Tee, um die kalten Hände an den Tassen aufzuwärmen, um die Seelen am heissen Getränkt zu erwärmen. Es ist voll, voll Töne und Menschen. Ich setze mich zu einem alten Mann. Eine Zeitung und ein Beret liegen auf dem Tisch vor ihm. Eine Tasse dampft vor sich hin. Er schaut von seinem Buch auf, nickt mir zu. Ich bestelle einen Tee mit Zimt und Honig. Ich reibe das Akkuherz. Die Nikon lässt sich erweichen und zeigt mir die eingefrorenen Momente der lebendigen Stadt. Der Mann beobachtet mich verstohlen über den Rand seines Buches. Ich schlürfe das heisse, süsse Getränk. "Henri Michaux" steht auf dem Buch. Der Mann legt es weg. C'est bon - ouioui... Er wurde in Deutschland geboren. Er heisst Max. Er ist Künstler, Maler und lebt hier seit über 40 Jahren. Er mag die Cafés. Er mag lesen und Menschen beobachten. Die Kälte mag er nicht so. Im Winter hat es so viele Leute in seinen Cafés. Er packt ein kleines Buch aus seiner hellbraunen Ledertasche, kramt nach einem Kugelschreiber, schreibt etwas in das Buch, legt es hin, bezahlt und steht auf. Ich greife nach dem Buch und will es ihm hinstrecken. Er macht mit dem Kopf eine Nickbewegung in meine Richtung, sagt es gehört jetzt Ihnen und geht. "In der Gesellschaft der Ungeheuer, ausgewählte Dichtungen. Henri Michaux." Merci, denke ich und blicke zur Tür, die schon wieder geschlossen ist. Für Regine von Max, steht auf der Rückseite des Umschlags. Merci, denke ich. Ich gehe zurück in das Zimmer. Es riecht nach Kuba. Ich lade den Akku auf und koche einen Tee. Es riecht nach Kuba, und ich trinke Ingwertee - Ingwertee mit Honig. Mein Körper wird warm, das Akkuherz lädt sich wieder auf, und die Frisur ist mit viel Wachs - und Ingwertee - auch nicht mehr so schlimm.
Die Rückfahrt geht rückwärts. Mit dem Rücken zur Schweiz fahre ich wieder zurück in den Schnee, zurück zu meinen Bergen. Ich denke an Mani Matter - di andere, die sitze ir Bank vis-à-vis, dass si lang no chöi gseh, wo der Zug scho isch gsi und dr Rügge zuechehre der Richtig wohi der Zug fahrt...
Grau in grau geht's rückwärts nach Hause - grau in grau und Ingwertee in einer Thermosflasche.


* Von Felten Welten-Productions: Ein Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten

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