Freitag, 6. Februar 2009

Von Felten Welten-Productions* präsentiert

Träume in der Warteschlange

Die Nacht war in ein ungutes Gefühl gehüllt. Sie hat den Traum geträumt - den Traum, der sie vergessen lässt, dass sie träumt. Es gibt nur einen Traum, der sie das vergessen lässt. Diesen Traum hat sie geträumt. Der Traum, den alle immer wieder träumen. Die Zähne fallen aus. Sie fallen einzeln aus, restlos alle. Die Wurzeln verlieren den Halt im Zahnfleisch und es bleibt ein zahnloses, zahnfleischrotes Grinsen. Zwischendurch ist sie aufgewacht, hat beunruhigt und mit klopfendem Herzen mit der Zunge nach den Zähnen gefühlt. Sie waren noch da, alle - alle an ihrem gewohnten Platz, wie immer. Doch das ungute Gefühl blieb. Zuerst hörte sie Geräusche aus der Küche. Sie schlich sich auf den Zehenspitzen in den Korridor, in der Hand einen Kleiderbügel, bereit zum Schlag, egal ob es ein Einbrecher sein sollte oder ein Geist. Es war die Kaffeemaschine, die dampfend das Wasser erhitzte. Zurück unter der beschützenden, satinbezogenen Federdecke verwandelte sich das ungute Gefühl in ein Jucken, und sie war sich plötzlich ganz sicher, dass sie das weiche Federkissen mit beissenden Viechern teilte. Sie hat eines gesehen. Sie war sich ganz sicher. Es war schwarz und klein. Ein Floh? Es juckte überall. Sie sprühte sich mit Kik ein. Sie sprühte das Bett mit Kik ein, das Federkissen, das ganze Zimmer. Es hörte nicht auf zu Jucken, weil da wahrscheinlich keine beissenden Viecher waren, aber irgendwann wurde sie von der Müdigkeit übermannt und wurde wieder eingeholt vom zahnlosen Traum. Dann fielen ihr auch noch alle Zehennägel aus. Sie konnte an den Nägeln ziehen und zurück blieben nagellose Zehen. Nagellos, Zahnlos, mit juckender Haut und schweissgebadet wachte sie am Morgen auf. Die Welt vor ihrem Fenster war wieder mit einem weissen Zuckerguss übergossen worden, wie eine Geburtstagstorte. Sie mochte aber keinen weissen Zuckerguss - zu süss, zu langweilig süss - und sie hatte nicht Geburtstag. Zerstört waren ihre zaghaften Frühlingssonnenträume, zerstört von einer Zuckergussnacht voller unguter Gefühle. Zerstört waren auch die Träume von einer italienischen Steinterrasse, übersät von starken Kaffeedüften aus der Küche. Die Wohnung mit der italienischen Kaffee-Steinterrasse wurde anderweitig vergeben. Die Frühlingssonnenträume wurden in weisse Watte verpackt und zurück in Traumwarteschlange gestellt. In der Traumwarteschlange ging es zu, wie bei Cablecom. Die Auf-und-davon-ab-Belpmoos-bis-ans-Kap-der-Guten-Hoffnung-Träume, die Kreta-tönt-doch-besser-als-Heimberg-Träume (siehe auch: Somethings never change auf diesem Blog), die Irgendwann-tanze-ich-durch-einen-Korridor-Träume (siehe auch: Irgendwann auf diesem Blog), die Tamanrasset-Träume (siehe auch: Tamanrasset auf diesem Blog) hingen in der Warteschlange - genervt von der künstlichen Stimme bitte haben Sie noch etwas Geduld... - auf unbestimmte Zeit vertröstet. Und jetzt gesellten sich auch wieder die Frühlingssonnenträume und die Italien-Kaffee-Steinterrassen-Träume dazu, entmutigt, weil sie beide schon geglaubt hatten, bald erlöst zu werden von dieser ewigen Warterei. Kaffee hat sie sich dann auch ohne Steinterrasse gekocht, stark und süss, wie der weisse Tortenzuckergussschnee. Die orange Holland-Tasse nahm sie mit an den Arbeitsplatz im Wohnzimmer und vergass zu trinken, bis der Kaffee kalt war. Sie surfte im Internet nach einer Italien-Kaffee-Steinterrassen-Wohnung und hörte dazu Maná, in der Hoffnung, wenigstens die Seele täuschen zu können, dass die cablecomartige Traumwarteschlange für die Frühlingssonnenträume bald ein Ende haben würde. Sie fand keine Italien-Kaffee-Steinterrassen-Wohnung in ihrer Preislage und trank den kalten Kaffee in einem Schluck leer. Draussen hörte sie die pflichtbewusste Hauswartin den weissen Zuckergussschnee in regelmässigen Kratzbewegungen von der Treppe schaufeln. Sie entschied sich für eine weitere Tasse Kaffee und dachte dabei an die ungeduldigen Träume, die heute besonders unnachgiebig auf sich aufmerksam zu machen versuchten. Sie versuchte jedem Träumchen zuzuhören, war es auch noch so klein. Sie hörte zu, gab jedem einige Minuten, sich zu erklären. Sie erzählten ihr teilweise die absurdesten Geschichten, dass sie über ihre eigenen unerfüllten Wünsche schmunzeln musste, die in der Warteschlange auf ihre Erfüllung warteten. Da war einer - das musste der kleine Bruder vom Irgendwann-tanze-ich-durch-einen-Korridor-Traum sein - der erzählte ihr, sie wolle sich auf einen Felsen stellen, auf einen hohen Felsen, unter sich das endlose Meer, die Arme ausbreiten und schreien. Ein anderer sagte, sie wolle den Kopf mit langen Haaren aus dem fahrenden Zugfenster im Wind wehen lassen. Sie hatte ja nicht einmal lange Haare... Sie hörte zu. Sie hörte dem Einen-Berg-Marzipanschweine-essen-Traum zu, dem Ich-steige-in-Olten-einfach-nicht-aus-dem-Zug-Traum (dem grossen Bruder vom Ich-steige-in-Bern-einfach-nicht-aus-dem-Zug-Traum, den sie während der Schulzeit in Ittigen und Köniz geträumt hatte und nie hat Wirklichkeit werden lassen - hätte sie wahrscheinlich tun sollen, denn für den Ich-steige-in-Olten-einfach-nicht-aus-dem-Zug-Traum hatte sie heute zu viel Verantwortungs-bewusstsein) und sie hörte auch dem Ich-will-eine-rote-Amici-X1-Trio-Kaffeemaschine-Traum zu und dem Ein-Tischchen-aus-einem-Leuchtschriftreklamenbuchstaben-bauen-Traum. Ihr wurde bewusst, dass die vielen kleinen Träume, die unerfüllt in der Traumwarteschlange warteten, die anderen, die grossen Träume blockierten - oder so interpretierte sie zu mindest ihre Lage und entschied sich heute damit anzufangen, sich jeden Tag einen kleinen Traum zu erfüllen, jeden Tag einen kleinen, bis sie bei den grossen angelangt sein würde. Sie lies sich ein Bad ein, ein Bad mit drei rosaroten Ölkugeln, holte ein neues Kurzge-schichtenbuch (Das Ende eines ganz normalen Tages von Franz Hohler) aus dem Bücherregal, öffnete eine Flasche Prosecco (eine kleine!), zündete eine Kerze an und blieb im Wasser, bis das Buch fertig gelesen, die Flasche leer getrunken und die Haut aufgeweicht und verschrumpelt war - den ganzen schneeweissen Wattenvormittag lang. Der Anfang eines anormalen Tages.


* Von Felten Welten-Productions: Ein
Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten

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