Dienstag, 28. September 2010

Über das bodenlose Nichts und keine Sonne*


Ein weisses, grosses Nichts umgab mich, und da waren Farben. Von links kam ein grosses Rot. Es füllte langsam die linke Seite aus, bis es meine ganze Sicht einnahm, um dann einem leuchtenden Gelb zu weichen, das sich von rechts kommend vor meine Augen schob. Dann stolperte ich. Ein Trottoirabsatz. Ich hatte einen Fussgängerstreifen überquert - daher das grosse Gelb. Ich zog die milchige Brille aus, und Sheila, meine sehbehinderte Begleiterin, überreichte mir anstelle des weissen Nichts eine Augenbinde - totale Dunkelheit, schwarzes, bodenloses Nichts.
An Sheilas Arm festgeklammert, durchquerte ich den belebten Bahnhof. Ich hörte Stimmen, fühlte jede Unebenheit des Bodens und meine Unsicherheit - vor allem fühlte ich meine Unsicherheit. Nur schwarz, nur nichts und beängstigende Geräusche. Jetzt gehen wir auf die Rolltreppe, hörte ich Sheilas Stimme. Die Unsicherheit wich einer tatsächlichen Angst. Ich schielte angestrengt unter der Binde hindurch auf den Boden und erhaschte einen Blick auf das fahrende Metall vor mir. Das tat ich auch wieder, als ich fühlte, dass die rollende Treppe flach wurde. Zu sehen, gab mir meine Sicherheit zurück.
Und jetzt, wo willst du noch hin?, fragte mich Sheila. Ich habe es gesehen, nichts zu sehen, antwortete ich und zog das Nichts und damit meine Unsicherheit von meinen Augen weg. Grelles Licht blendete mich. Erst nach einigen Sekunden begann ich wahrzunehmen, wo ich mich befand: am Ausgang des Bahnhofs, und was mich blendete, awr der angenegme Schatten des Bahnhofdachs. Wir verabschiedeten uns, und ich schaute Sheila noch eine Weile hinterher, wie sie zügigen Schrittes die Strasse überquert und in die nächste Gass einbiegt, als würde sie alles so sehen wie ich.
Jeden Tag gehen Sheila, Herr Pfister und viele andere durch das farbig verschwommene Nichts. Jeden Tag gehen Pius und viele andere durch das schwarze, beängstigende Nichts. Sie gehen durch ein visuelles Nichts, ohne Angst, und meistern ihren Alltag. Und jeden Tag verlassen wir uns auf unsere Augen, um nicht über Absätze zu stolpern und in Türen zu laufen. Jeden Tag sehen wir Bäume und ihr Grün, bekannte und unbekannte Gesichter, graue Häuser, farbige Schilder und wissen nicht, wie es ist, durch ein Nichts zu gehen - ein farbiges Nichts oder ein ganz schwarzes Nichts, als gäbe es nur Nacht und keine Sonne.

*Text und Bild waren zusehen in der Ausstellung Utopie und Alltag, im Spannungsfeld zwischen Kunst und Bildung (17.Juli - 5.September 2010), unter dem Titel Siehst du - eine Annäherung an eine nonvisuelle Welt (work in progress)
http://www.kunstmuseum-thun.ch/index.php?id=450

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