Freitag, 24. Juni 2011

Du warst Zeichner

Ich dachte immer, dass eine Welt ohne visuellen Bilder bilderlos sei – schwarz und bilderlos. Du sagst aber, du siehst viele Bilder – Erinnerungen, Vorstellungen, Konstruktionen, Landkarten und eigentlich immer alles in Farbe.
Du hast mich durch deine unsichtbare bilderreiche Welt geführt, und ich habe dazu meine Bilder konstruiert, sichtbare Bilder gemacht aus deinem Repertoire.
Dein Leben ist kein Film aus schon vorhandenen Illustrationen, der vor deinem Auge abläuft wie das unsere. Dein Leben gleicht mehr einem Buch. Du liest es, etwas langsamer vielleicht, als wenn alles als Film ablaufen würde, und die Illustrationen dazu machst du dir selber und färbst sie ein, wie es dir gefällt.

Deine Netzhaut hat sich abgelöst und du bist Erblindet.
Grund: Diabetes, Typ 1

Das Sehen ist mein Beruf, die Kamera mein drittes Auge. Du hast auch Bilder gemacht. Genau wie ich. Sehen war auch dein Beruf. Du warst Zeichner, als du noch gesehen hast. Du hast Bilder konstruiert mit Lineal und Zirkel. Freihand, sagst du, hast du nicht gerne gezeichnet. Du konntest das nie gut.
Manchmal hast du auch fotografiert – das Schiff im Meer, eine Strasse, die auf einen Berg zuläuft. Diese Bilder sind immer noch in deinem Kopf. Du vergisst sie nicht, kannst sie beschreiben, als würdest du sie jeden Tag betrachten.
Andere Dinge hast du vergessen – die unwichtigen Dinge, sagst du.
Es vereinfache auch manches, nichts zu sehen. Du bist sogar manchmal froh, dass du nicht mehr alles sehen musst. Es gibt zu viel zu sehen, findest du. Das irritiert nur.
Die schlimmste Zeit war damals, als du noch ein bisschen gesehen hast – hell und dunkel, Umrisse, aber verschwommen, und du wolltest dich weiterhin auf deine Augen verlassen.
Dann, als alles weg war – alles Visuelle weg war – erst dann hast du angefangen mit anderen Sinnen zu sehen. Du spürst, wenn ein Weg leicht ansteigt. Du hörst viel mehr Geräusche, den Bach, wenn du die Brücke überquerst, und eine Kreuzung klingt anders als ein Kreisel. Auch deine Nase nimmt mehr wahr, und du hast den Hund.

Du hättest Angst wieder zu sehen. Visuelle Überinformation. Vorurteile. Orientierungslosigkeit – und Operationen möchtest du sowieso keine mehr.
Wenn du aber sehen würdest, möchtest du deinen Sohn anschauen,
und du würdest einen Spaziergang machen, die Natur anschauen. Zusehen, wie der Bach fliesst, den du immer rauschen hörst auf der Brücke.

Du hattest einen Herzinfarkt.
Grund: Diabetes Typ 1

Keine Kommentare: