Sonntag, 21. Dezember 2008

Von Felten Welten-Productions* präsentiert

Der Geschichtensammler

Er hat schwarze Haare, die bis über seine Schultern reichen, schwarze Rastas - wahrscheinlich hat es auch schon ein paar graue darunter. Seine Haut ist kaffeebraun, die Nase hat die Form eines Pfelilbogens. Er steht alleine an die Wand gelehnt im Café Mokka. Er steht da, alleine seit ich das erste Mal das Mokka betreten habe. Er trägt ein schwarzes Hemd, immer. Sein Alter ist schwer einzuschätzen. Vielleicht ist er 40, vielleicht 50, vielleicht auch älter (oder jünger?)... Aber egal wie alt er ist, so alt war er immer.
Ich betrete das Mokka. Er ist da. Er steht da. Er schaut. Er lacht. Er lächelt. Manchmal bewegen sich seine Lippen. Worte hört man keine. Es ist zu laut. Er raucht. Er beobachtet. Er trinkt etwas und schaut dem Treiben zu. Wie er wohl seine Beobachtungsopfer auswählt? Wenn sie lachen, lacht er mit, für sich alleine. Wenn sie sich streiten, schaut er traurig zu. Ich habe ihn noch nie mit jemandem reden sehen. Ich habe ihn noch nie an einem anderen Ort angetroffen, als in seinen zwei Plätzen im Mokka, Plätze, von denen man zum Eingang sieht. Unscheinbar, als wäre er nicht vorhanden, saugt er die Umgebung in sich auf und verwandelt das Erlebte im Innern in seine eigenen Geschichten. All die Momente der Mokka-Besucher werden zu seinen Momenten, werden zu seiner Geschichte.
Am Samstag war ich alleine im Mokka. Das habe ich früher oft gemacht. Ich bin einfach alleine losgezogen und bin ins Mokka gegangen. Irgendjemanden habe ich da immer getroffen. Am Samstag habe ich das auch wieder einmal gemacht. Ich habe aber niemanden gekannt, niemanden erkannt - ausser ihn. Ich habe ihn gegrüsst. Warum habe ich ihn vorher nie gegrüsst, den Beobachter, den Geschichtensammler in der Ecke? Er hat zurück gegrüsst und gelächelt. Er hat mich erkannt. Er kennt wahrscheinlich alle, die im Mokka ein- und ausgehen. Er kennt die Gesichter. Er kennt viele Geschichten. Er erzählt sie nie, nur sich selber. Er beobachtet, als wäre er Big Brother.
Ich habe mich an die weisse Wand gelehnt - die weisse Wand, die ich am Abend oder am nächsten Tag von der Kleidung wasche, aus dem Halstuch klopfe. Ich habe etwas zu Trinken bestellt und zugeschaut. Ich habe ihm zugeschaut, wie er anderen zuschaut, und ich bin seinem Blick gefolgt: Ein Pärchen, vielleicht 18. Sie war klein. Ihr blondes Haar hatte sie zu einer komplizierten Frisur gesteckt. Sie trug ein rotes Träger-Shirt und Bluejeans. Er war fast einen Kopf grösser als sie. Sein weites T-Shirt hing unförmig über seine Baggyjeans, versteckte aber nicht seine muskulösen Oberarme. Beide hatten ein Bier in der Hand, sie ein Vollmond, er ein grosses Boxer. Sie haben zusammen getanzt, sich verliebt angeschaut und gelacht. Er hat sie im Kreis herum gewirbelt. Die sind bestimmt noch nicht so lange zusammen, so verliebt, wie die einander angucken, habe ich gedacht. Ob sie noch zur Schule gehen? Wahrscheinlich haben sie sich auf dem Gymnasium oder in der Berufsschule kennen gelernt. Sie könnte Friseuse sein, der aufwändigen und perfekten Steckfrisur nach zu urteilen, und er ist wahrscheinlich Schreiner oder Maurer. Auf jeden Fall wird er einen handwerklichen Beruf ausüben, so kräftig wie er gebaut ist. Oder er arbeitet im Büro und treibt sonst viel Sport, aber dann würde er wahrscheinlich nicht so viel Bier trinken. Sie tanzten, sie torkelten ein bisschen. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie schaute auf die Flasche in ihrer Hand, setzte sie an, nahm einen kräftigen Schluck und streckte ihm die leere Flasche hin. Er nahm sie, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verschwand um die Ecke. Einen Kuss auf die Stirn! Das ist süss, habe ich gedacht und bin ein bisschen erschrocken, wie schnell ich in eine fremde Geschichte eingetaucht bin. Ich habe mich zum Geschichtensammler gedreht. Er stand immer noch da, schaute zum blonden Mädchen und lächelte zufrieden vor sich hin. Dann wanderten seine Augen wieder durch die Menge, wahrscheinlich auf der Suche nach einer neuen Geschichte. Dabei kreuzten sich unsere Blicke erneut.
Wer er wohl ist? Wo er wohl herkommt? Was er arbeitet? Vielleicht kommt er aus Tunesien. Er ist vor vielen Jahren in die Schweiz gekommen, aber weil er so schüchtern ist, hat er fast niemanden kennen gelernt und somit auch die Deutsche Sprache nie wirklich gelernt. Aber er ist ohnehin nicht hierher gekommen, weil er Menschen kennen lernen wollte. Ausserdem mag er den Klang einer unverständlichen Sprache, und er mag beobachten und dazu seine eigene Geschichte erfinden. Er ist Dichter oder Schriftsteller. Er geht ins Mokka und lässt sich von den Menschen und ihrem Treiben inspirieren. Er sammelt ihre Geschichten und schreibt zu Hause Bücher auf Französisch oder Arabisch. In seinem Heimatland Tunesien ist er berühmt. Alle verschlingen seine Geschichten und warten schon nach dem Erscheinen seines neusten Werkes wieder auf das nächste. Seine Bücher heissen Zwischen Vollmond und Sonnenaufgang (mit Vollmond meint er natürlich das Bier, aber es ist auch ein wunderbares Wortspiel, findet er) und Boxer (damit meint er das andere Bier und spielt damit auf den Faust von Johann Wolfgang Goethe an. Er scheint Wortspiele zu mögen! Seinerzeit, als er sich entschieden hat, Tunesien zu verlassen, hat er sich auch nicht zuletzt wegen seiner Liebe für Wortspiele für Thun entschieden. Der Klang des Namens hat ihn an die Hauptstadt seines Heimatlandes erinnert, was er lustig fand. Ursprünglich wollte er nämlich nach Zürich gehen - die einzige Stadt, die er in der Schweiz gekannt hat... Er hatte schon gepackt und war auf Wohnungssuche, dann hörte er von einer Stadt, namens Thun. Heute ist er aber froh, hier gelandet zu sein. Er war einmal in Zürich - viel zu gross, viel zu laut, und er hatte irgendwie immer das Gefühl, dass Züri brännt... Warum, weiss er selber nicht...). Er lebt in einer bescheidenen Wohnung. Sie hat nur zwei Zimmer. In einem Zimmer steht ein Bett und an Stelle eines Nachttischchens hat er einige Bücher aufeinander gestapelt. Darauf steht ein dreiarmiger, mit verschiedenfarbigem Wachs übertropfter Kerzenständer, ein Geschenk seiner grossen Liebe - das Einzige, was er aus seinem Heimatland mit nach Thun genommen hat. Drei rote Kerzen stehen darin und daneben liegt eine Zündholzschachtel mit einem Bild der Luzerner Kappelbrücke, ein Zettel und ein Kugelschreiber mit der Aufschrift Swisscom. Im anderen Zimmer stehen ein Tisch und ein Stuhl. Auf dem Stuhl liegen ein hellblaues, abgewetztes Kissen und auf dem Tisch steht eine kleine Lampe, viele weisse und auch beschriebene Blätter, Kugelschreiber und Bücher. Also eigentlich ist nicht nur der Tisch voller Bücher und Blätter, das ganze Zimmer ist überstellt davon. Ich glaube, nicht einmal der Geschichtensammler selber weiss, ob unter den Büchern und Papieren Parkett- oder Teppichboden versteckt ist. Und auch die Wand ist voll gehängt mit Papierstücken voller Kritzeleien und Notizen auf Französisch, Arabisch und einige Worte auf Deutsch - wahrscheinlich seine Ideen. Er hat keinen Fernseher, keinen Computer. In der kleinen Küche steht ein schwarzer Radio mit einer langen Antenne auf dem Kühlschrank, und neben der Eingangstür hängt ein schwarzes Telefon auf einer silbernen Gabel - die einzigen technischen Apparate, die er besitzt. Er ist ein Nostalgiker, deshalb auch das alte Telefon, mit dem er manchmal seine Familie anruft oder mit dem Verlag in Tunis telefoniert.
Wenn er gegen Morgen von seinen Sammeltouren aus dem Mokka nach Hause kommt, trinkt er einen Kaffee, den er sich auf dem Heimweg am Bahnhofbuffet holt, und legt sich dann für einige Stunden aufs Ohr. Er schläft aber nie sehr lange. Er will schreiben. Er kann am besten am Morgen schreiben und seine Wohnung ist ohnehin ziemlich lärmig am Vormittag, weil sich unter ihr eine Bäckerei befindet, die sieben Tage die Woche geöffnet hat. Manchmal verlässt er tagelang seine Wohnung nicht. Er schreibt und schreibt und schreibt. Er vergisst dabei sogar zu essen. Zum Glück hat er eine aufmerksame Nachbarin. Eine alte Dame, der er einmal zwei Koffer in den zweiten Stock geschleppt hat, als er sie im Eingang angetroffen hat. Seit dem mag sie den Geschichtensammler, ausserdem ist er ruhig. Sie hört nie ein Geräusch aus der Wohnung unter ihr, ausser manchmal das Plätschern des Wassers, wenn er duscht. Wenn sie ihn länger nicht mehr antrifft, geht sie manchmal klingeln und bringt ihm einen Berliner oder einen Nussgipfel aus der Bäckerei mit. Er dankt es ihr mit einem freundlichen Lächeln und revanchiert sich dann seinerseits wieder mit Taschen schleppen, wenn er die Dame nach einem Einkauf im Treppenhaus antrifft. Eine wortlose Freundschaft ist mittlerweile zwischen den beiden entstanden.
Im Moment lebt er wieder einmal sehr zurückgezogen. Es ist Weihnachtszeit, und das Mokka ist bis am 26. Dezember geschlossen. Er hat sich mit einigen Packungen Reis und gefrorenem Hammelfleisch eingedeckt. Ausserdem hat ihm die nette alte Dame selbstgemachtes Weihnachtsgebäck vor die Türe gestellt. Er nutzt die Zeit, um an seiner neusten Idee zu schreiben, einem Roman über ein junges Paar, das sich im Mokka (wie könnte es anders sein...) kennen gelernt hat, als sich zwei ihrer Freunde wegen einer Bagatelle blutig geschlagen haben. Eine absurde Geschichte über Gewalt, die eine junge Liebe entflammen lässt. Einen Titel hat er noch keinen. Die Titel findet er normalerweise in seinen Träumen, aber erst wenn er ein Werk zu Ende geschrieben hat. Er träumt etwas, woran er sich später nicht mehr erinnern kann und wacht dann auf, mit einem Satz oder einem Wort im Kopf. Diese schreibt er noch im Halbschlaf auf den Zettel auf seinem Nachttisch aus Büchern und fällt dann einen traumlosen Schlaf, der dann ohne Weiteres bis nach dem Mittag dauern kann. Wenn er also aufschreckt und erstaunt feststellt, dass es schon Nachmittag ist, blickt er sogleich auf den Büchernachttisch neben dem Bett und findet da den Titel seines neusten Buches in seiner Handschrift - und erstaunlicherweise immer auf Deutsch - auf dem Zettel geschrieben.
Er geht nur noch selten nach Tunesien (ab und zu besucht er seine Familie in einem abgelegenen Dorf an der Grenze zur Sahara), nicht des Geldes wegen - davon hätte er genug, weil er ja ein erfolgreicher Geschichtenschreiber ist - aber er mag es nicht, erkannt zu werden. Er will keinen Ruhm, und den Rummel um seine Person mag er auch nicht sonderlich. Er mag es einfach, Geschichten zu erzählen, und er mag die Einsamkeit. Deshalb bleibt er in Thun, wo ihn niemand kennt, und sammelt weiter Geschichten.
Dass mein Glas leer war, bemerkte ich erst, als ein Eiswürfel gegen meine Zähne klatschte. Ich schaute mich um: Immer noch niemand da, den ich kannte - ausser dem jungen Pärchen und dem Geschichtensammler. Das Pärchen war wieder am tanzen, sie mit einem halbvollen Vollmond in der linken Hand und er mit einem Boxer. Der Geschichtensammler stand in seiner Ecke an die Wand gelehnt, eine Zigarette in der Hand und ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht. Ich habe meine Jacke genommen, habe versucht so gut es ging, die weisse Farbe aus dem Stoff zu klopfen. Im Gehen habe ich ihm zugenickt. Ich weiss nicht, ob er mich noch bemerkt hat, wahrscheinlich war er zu sehr vertieft ins Sammeln von Geschichten für seinen neusten Roman.


* Von Felten Welten-Productions: Ein Non-Profit (es ist so gekommen) und No-Art-Demand (but much fun and a little narcism) Projekt von Regine von Felten

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