Freitag, 11. März 2011

Die Stimme macht noch lange kein Gesicht

Da ist dieses Bild. Es ist vor seinem inneren Auge, als würde er die Fotografie gerade betrachten.

Ein Schiff befindet sich in der Mitte der hochformatigen Fotografie. Schwarz hebt es sich vom rotgelben Himmelhintergrund ab. Zwischen den beiden Masten, genau dazwischen, ist die orange Sonne, leuchtend wie ein Feuerball. Sie ist schon etwas ins Meer gesunken, als würde sie mit dem Blau verschmelzen wollen.

Lange hat er das Bild beschrieben, lange und ausführlich. Lange hat er damals auch hinter der Kamera gestanden, sagt er, hinter der Olympus seines Vaters. Die Kamera hat er nicht mehr. Er hat sie verschenkt oder weggeworfen. Das Bild mag er aber immer noch. Es hängt über seinem Bett, sagt er.

Sonst hat er nicht viele Bilder. In seiner Wohnung hängen einige, aber in seinem Kopf sind nur wenige. Er kann sich nicht gut an Bilder erinnern, und er macht sich keine neuen. Manchmal stellt er sich Haare vor, Frisuren, und da ist noch ein Bild einer Strasse. Die weisse Linie verläuft durch die Mitte der Fotografie auf einen Berg zu. Er weiss nicht, ob er das Bild noch hat, ob es noch in seiner Wohnung hängt.

Gesichter gibt es auch keine mehr, nur manchmal Haare, Haarfarbe und eine Frisur.

Er brauche die Gesichter nicht. Er brauche sie nicht mehr.

Wenn man telefoniert, denk man sich auch keine Gesichter. Die Stimme macht noch lange kein Gesicht, und das Gesicht ist sowieso unnötig. Es verleitet nur zu Spekulation, wie auch die Frisur. Aber die Frisuren denken sich so einfach, und er denkt sie gerne.

Stimmen machen oft eine Haarfarbe, und eigentlich ist es dann auch ganz egal, ob es mit der visuellen Realität übereinstimmt.

Eine Freundin hat er sich schwarzhaarig gedacht, als er sie sprechen hörte. Über Jahre war sie schwarzhaarig für ihn. Sie war aber eigentlich blond, strohblond. In seinem Kopf bleibt sie aber schwarzhaarig, auch wenn das nicht mit der visuellen Realität übereinstimmt.

Man kann ein gedachtes Bild nicht einfach umfärben, wenn es einmal gedacht ist. Es bleibt, wie es sein will – schwarz.

Mich hat er hellbraun und kurzhaarig gedacht. Das stimmt, aber sonst wäre es ja auch egal. Bilder sind nicht mehr wichtig, sagt er, und Gesichter auch nicht.

Nur noch das eine Bild. Es hängt über seinem Bett.

Ich sehe ein Schiff in der Mitte einer hochformatigen Fotografie, zwei Masten, dazwischen die orange Sonne. Genau wie er gesagt hat.

Ist es das Bild mit dem Schiff?

Und ist die Sonne zwischen den Masten? Fragt er, als könnte sie auf dem Bild einfach untergehen, und schaut mich an, als würde er mich sehen.

Das Bild hängt über dem Bett, etwas schief, etwas verblichen, aber die Sonne ist in der Mitte der beiden Masten – immer noch.

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