Mittwoch, 4. Mai 2011

Wenn man weiss, was schwarz ist

Wenn man weiss, was schwarz ist, könnte man sagen, man sieht einfach schwarz. Schwarz und vielleicht nach einer Weile noch diese weissen Punkte, wie Ameisen oder wie das Flimmern auf dem Fernsehbildschirm, wenn kein Bild da ist.

Es ist, als ob der Raum riesig wäre, unendlich, aber auch gleich vor meiner Nase zu Ende sein kann. Man weiss es nicht.

Beklemmen. Bei mir hat es Beklemmen ausgelöst. Ein bisschen Unsicherheit auch. Ich habe nicht mehr viel gesprochen. Ich habe mich zu orientieren versucht. Dann wurde mir ein bisschen schwindlig. Kein Halt für die Augen, einfach bodenloses Nichts.

Er hatte Angst, regelrecht Panik und wollte den schwarzen Raum verlassen. Alleine konnte er aber nicht gehen und er rief – fast schon ein Hilferuf – er wolle da raus.

Es hatte viele Menschen. Alle haben durcheinander gesprochen, gelacht, geschrieen. Ich fand, es sei viel lauter als in hellen Räumen. Ungehemmt. Verängstigt. Wehe wenn sie sich unbeobachtet fühlen.

Er hat noch einmal gerufen, etwas lauter, und ein bisschen geflucht hat er. „Ruth! Ruth, ich will raus! Ich will eine Zigarette rauchen. Ich muss hier raus! Ruth!“

Ruth kam dann, irgendwann und nahm ihn mit.

Dass er nicht mehr da war, konnte ich nur daran erkennen, dass er nicht mehr zu hören war. Unsichtbar und ohne Ton.

Ich habe gewartet. Zu sehen gab es nur die weissen Ameisen auf dem schwarzen Bildschirm. Gehört habe ich viel – zu viel, so dass ich nichts mehr aufnehmen konnte und dann doch nichts gehört habe. Ich gab mich dem Schwindel hin. Fast wie in einem Rausch.

Dann kam Ruth und brachte ihn wieder an den Tisch. Er sagte, es sei besser. Er möge es aber nicht, das Dunkel. Platzangst.

Wir haben gegessen. Das Auge ass nicht mit.

Als die vielen Leute weg waren, war es angenehmer. Wir haben uns unterhalten, über die Dunkelheit, die Unsicherheit, die Panik, den Lärm die Grösse des Raums, über die Ameisen und das Schwarz.

Dann haben wir Ruth gerufen. Sie hat uns heraus geführt, im Zickzack und wir hielten uns an ihr fest. Wir waren eine Schlange. Ruth war der Kopf, unsere Orientierung, der Boden im Bodenlosen, der Weg ans Licht.

Dann ein Blitz. Hell.

Ich schloss die Augen, versuchte sie zu öffnen und musste sie wieder schliessen. Eine ganze Weile ging das so. Auf. Zu. Auf. Zu. Und Kopfschmerzen.

Kopfschmerzen und weiss. Man könnte sagen, es war alles weiss, wenn man weiss, was weiss ist.

Freitag, 11. März 2011

Nur Rotwein und zu Hause

Viel zu laut in der Bar. Rauchen darf man nicht mehr, unterhalten kann man sich nicht und zum tanzen hat es auch keinen Platz.

Ich trinke ein Glas Rotwein. Das sieht stilvoll aus, edel, fast schon belesen, wenn ich jetzt noch ein Buch vor mir aufschlagen würde. Ein Glas Rotwein und ein Buch. Leider habe ich kein Buch dabei und zum schreibe habe ich auch nichts. SMS schreiben in einer Bar sieht verzweifelt aus und stillos. Also nur Rotwein

Ich bin in der Bar, also denke ich. Ich denke, bin, trinke und schaue. Ich beobachte Menschen, wie sie sich bewegen, sich zu unterhalten versuchen, wie sie lachen, bestellen, trinken. Ich beobachte, wie sie sich kleiden, wie sie schauen, wo sie hingehen und was sie trinken.

Vielleicht werde ich einmal darüber schreiben, über den Rotwein – er war nicht übel – die Salzstängeli und den Lärm. Vielleicht.

Er geht nicht in Bars. Viel zu laut. Rauchen darf man nicht mehr, unterhalten kann man sich nicht und zum tanzen hat es auch keinen Platz.

Er denkt, er ist, er trinkt den Wein – aber lieber zu Hause, weil er nicht beobachten kann. Er ist blind.

Die Stimme macht noch lange kein Gesicht

Da ist dieses Bild. Es ist vor seinem inneren Auge, als würde er die Fotografie gerade betrachten.

Ein Schiff befindet sich in der Mitte der hochformatigen Fotografie. Schwarz hebt es sich vom rotgelben Himmelhintergrund ab. Zwischen den beiden Masten, genau dazwischen, ist die orange Sonne, leuchtend wie ein Feuerball. Sie ist schon etwas ins Meer gesunken, als würde sie mit dem Blau verschmelzen wollen.

Lange hat er das Bild beschrieben, lange und ausführlich. Lange hat er damals auch hinter der Kamera gestanden, sagt er, hinter der Olympus seines Vaters. Die Kamera hat er nicht mehr. Er hat sie verschenkt oder weggeworfen. Das Bild mag er aber immer noch. Es hängt über seinem Bett, sagt er.

Sonst hat er nicht viele Bilder. In seiner Wohnung hängen einige, aber in seinem Kopf sind nur wenige. Er kann sich nicht gut an Bilder erinnern, und er macht sich keine neuen. Manchmal stellt er sich Haare vor, Frisuren, und da ist noch ein Bild einer Strasse. Die weisse Linie verläuft durch die Mitte der Fotografie auf einen Berg zu. Er weiss nicht, ob er das Bild noch hat, ob es noch in seiner Wohnung hängt.

Gesichter gibt es auch keine mehr, nur manchmal Haare, Haarfarbe und eine Frisur.

Er brauche die Gesichter nicht. Er brauche sie nicht mehr.

Wenn man telefoniert, denk man sich auch keine Gesichter. Die Stimme macht noch lange kein Gesicht, und das Gesicht ist sowieso unnötig. Es verleitet nur zu Spekulation, wie auch die Frisur. Aber die Frisuren denken sich so einfach, und er denkt sie gerne.

Stimmen machen oft eine Haarfarbe, und eigentlich ist es dann auch ganz egal, ob es mit der visuellen Realität übereinstimmt.

Eine Freundin hat er sich schwarzhaarig gedacht, als er sie sprechen hörte. Über Jahre war sie schwarzhaarig für ihn. Sie war aber eigentlich blond, strohblond. In seinem Kopf bleibt sie aber schwarzhaarig, auch wenn das nicht mit der visuellen Realität übereinstimmt.

Man kann ein gedachtes Bild nicht einfach umfärben, wenn es einmal gedacht ist. Es bleibt, wie es sein will – schwarz.

Mich hat er hellbraun und kurzhaarig gedacht. Das stimmt, aber sonst wäre es ja auch egal. Bilder sind nicht mehr wichtig, sagt er, und Gesichter auch nicht.

Nur noch das eine Bild. Es hängt über seinem Bett.

Ich sehe ein Schiff in der Mitte einer hochformatigen Fotografie, zwei Masten, dazwischen die orange Sonne. Genau wie er gesagt hat.

Ist es das Bild mit dem Schiff?

Und ist die Sonne zwischen den Masten? Fragt er, als könnte sie auf dem Bild einfach untergehen, und schaut mich an, als würde er mich sehen.

Das Bild hängt über dem Bett, etwas schief, etwas verblichen, aber die Sonne ist in der Mitte der beiden Masten – immer noch.

Dienstag, 14. Dezember 2010

Nur eine Antwort

Was für eine Frage.

Ich werde eine passende Antwort finden, eine erfinden, für dich.

Ich weiss es nämlich nicht. Ich weiss es nicht. Das heisst, ich habe einfach noch nie darüber nachgedacht.

Ich weiss eigentlich nur, dass es nicht viel gibt. Es gibt nicht viel, was ich brauche. Eine Tasche reicht. Eine Tasche oder sogar nur ein Beutel. Darin meine Kamera, die Sonnenbrille und noch ein bisschen Geld. Dann vielleicht noch ein Buch. Ja, ein Buch. Eines zum lesen und ein Notizbuch für meine Gedanken. Zum notieren brauche ich noch einen Stift, oder zwei vielleicht, einen zweiten für den Notfall.

Aber eigentlich brauche ich vor allem die Kamera. Eigentlich nur die Kamera und vielleicht noch einen Film.

Ich kann nicht fotografieren. Eigentlich kann ich nicht fotografieren. Aber ich mag Bilder, und ich mag die Kamera. Ich mag meine Kamera. Sie ist schön. Schöner vielleicht noch als die Bilder, schöner als die Bilder, die sie macht – das ganz bestimmt. Aber vielleicht ist sie auch schöner als alle Bilder, schöner noch als alle Bilder, die es gibt und je geben wird – vielleicht.

Wenn ich dann gehe mit diesem Beutel, ein crèmfarbener Stoffbeutel übrigens, oder eierschalenfarben, wird mir nichts fehlen, nichts ausser dem Rauchen vielleicht. Früher hätte ich beim Gehen geraucht, ich habe immer geraucht, wenn ich gereist bin, und immer wenn ich gegangen bin.

Sie sass an der Bushaltestelle mit einem crèmfarbenen Beutel, nur einem crèmfarbenen Beutel und einer Zigarette. Obwohl sie nur diesen Beutel bei sich hatte, wusste ich, dass sie nicht zurückkommen würde. Ich war mir sicher irgendwie, dass sie einfach ging.

Eine Zigarette – das schreibt sich so gut, finde ich, und es liest sich gut, nicht? Es liest sich besser als ein Text ohne Zigarette, finde ich. Da ist es wie mit dem Wetter. Regen und Nebel, Herbst liest sich besser als Sonnenschein. Es klingt interessanter, wenn eine Szene im Regen spielt, oder noch besser im Nebel, am Abend.

Es regnete, als sie an der Bushaltestelle sass, nur einen Stoffbeutel in der Hand und eine Zigarette in der anderen.

Es gibt Dinge, die sich einfach besser lesen als andere. Rotwein zum Beispiel oder staubige Zimmer lesen sich besser, als saubere Zimmer und milchtrinkende Menschen.

Stell dir ein Büchergestell vor mit verstaubten Büchern. Ein Mann der rauchend das Zimmer betritt. Vielleicht lässt du die Szene sogar noch an einem schummrigen Abend spielen, in deinem Kopf. Die Zigarette klemmt zwischen seinen Lippen und in der Hand hält er ein halbvolles Glas Rotwein.

Das sind Klischees, klar! Aber trotzdem. Es liest sich nun einfach einmal besser als Geschichten mit kaltem Milchshake auf einer einer sonnigen Nichtraucherterrasse. Deshalb sind es ja auch Klischees, die alten Bücher, der Wein und neblige Strassen oder? Man riecht dann etwas, wenn man liest. Das tut man doch, findest du nicht?

Traurig eigentlich, da magst du Recht haben, dass sich alles Depressive, alles Ungesunde besser liest, als das, was ich gelebt (und nicht gelesen) eigentlich mag. Sonnenschein und Glücklichsein. Nun gut, Rotwein mag ich wirklich und Nebel zumindest manchmal auch. Aber staubige Zimmer wiederum mag ich gar nicht.

Ich gehe aber dann sowieso ohne Zigarette, nur mit dem Beutel. Und mir wird es egal sein, ob es regnet oder nicht. Und mir wird nichts fehlen, ausser eben der Zigarette.

Ich und die Kamera.

Besser wäre wahrscheinlich, noch eine zweite Kamera mitzunehmen, wenn man so lange weg gehen will. Das wäre vernünftig. Ja.

Ich bin aber nicht so vernünftig.

Also, ich und die Kamera.

Wenn der einzige Film voll ist, und ich kein Geld mehr habe für einen neuen, werde ich einfach ohne Film fotografieren. Ich fotografiere nur um des Fotografierenswillen. Die Bilder sind sowieso in meinem Kopf, und du siehst nur das, was du glauben willst. Dazu braucht es meine Bilder nicht. Es reicht, wenn ich sie direkt in meine Erinnerung fotografiere, dir erzähle, was ich sehe und die schlechten Bilder gleich automatisch lösche, alles in meinem Kopf.

Als Kind habe ich auch immer ohne Film fotografiert. Ich hatte eine Kamera, eine Kodak-Instamatic, aber keinen Film.

Dann bin ich Fotografin geworden, und ich habe auf Film fotografiert, zwangsläufig. Aber wenn ich gehe, um nicht wieder zurück zu kommen, werde ich bestimmt nicht mehr auf Film fotografieren, ganz bestimmt nicht. Ich werde auch nicht digital fotografieren. Ich werde einfach Bilder aufnehmen, direkt in meinen Kopf.

Da ist nämlich schon eine grosse Sammlung von Fotos, ein richtiges Archiv, sortiert nach Namen. Architektur zum Beispiel oder Zugbilder im Nebel, Krane vor blauem Himmel, besonders viele mit roten Kranen, so nebenbei, und Menschen.

Ich könnte schon eine grosse Ausstellung machen mit diesen Bildern. Eine fiktive Ausstellung, im grössten Museum. Welches ist überhaupt das grösste Museum der Welt? Der Louvre? Egal. Ich würde das grösste Museum sowieso füllen – wahrscheinlich würde ich sogar mehr als ein Museum füllen, zweimal den Louvre und einige Galerien dazu. Am besten eignen würden sich Galerien in nächster Umgebung des Doppel-Louvres.

Ich würde ersteinmal jedem Bild die optimale Grösse zuordnen, je nach Wichtigkeit und Qualität. Unwichtige Bilder, wie blutrote Sonnenuntergänge über Palmengesäumten Stränden wären klein. Sie würden aber auch hängen, weil sie zur Ergänzung ganz wichtig sind, aber sie wären klein, 13x18cm ungefähr, und die wichtigen Bilder wären riesig.

Die Wolkenbilder wären riesig, vielleicht nicht einmal, weil sie so gut sind, sondern vor allem, weil ich sie besonders mag, und weil ich davon besonders viele habe. Die wären noch grösser als Plakate, die wären etwa 3x4.5 Meter. Ich würde aus all diesen Bildern eine Collage gestalten, so à la Tillmanns, einfach noch besser natürlich und grösser vor allem. Sogar an den Decken würden Bilder hängen, und am Boden würden sie liegen.

Ich würde eine kleine Welt aus Bildern bauen. Aus meinen Bildern eine kleine Doppel-Louvre-Welt. Gar nicht so klein eigentlich.

Das gäbe aber wahnsinnig viel zu tun, dieses fiktive Archiv zu durchsuchen und neu zu ordnen, mein Gott! Vielleicht würde ich dabei sogar noch auf vergessene Bilder stossen, aber wahrscheinlich würde keine Ewigkeit reichen, das zu durchsuchen, vielleicht zwei Ewigkeiten, ja. Aber das gibt es ebenso wenig wie zwei Louvre.

Deshalb bleibe ich beim Archiv, dem Kopfarchiv. Besser ich bleibe erst einmal dabei. Das gäbe auch schon genug zu tun, und ich würde es ausserdem gerne tun.

Mein Archiv würde ich dann also erweitern, vergrössern. Die bestehende Arbeit anfangen zu beenden, wenn ich gehen würde.

Ich glaube sowieso, dass Mensch immer etwas tun muss, dass er gerne eine Aufgabe hat. Wenn er eine hat, denkt er immer, er möchte keine haben. Nichts tun ist schön. Hat er aber keine, fühlt er sich dann nutzlos. Das Hans-im-Schneckenloch-Prinzip.

Deshalb. Ich würde mein Archiv erweitern, wenn ich einfach gehen könnte.

Ich würde dich dann anrufen wollen, bestimmt. Spätestens wenn das Archiv fertig wäre, würde ich dich anrufen, um dir zu sagen, dass ich nun fertig bin mit allen Bildern. Und dann könnte ich dir auch gleich noch sagen, ob ich die Gegenstände gut gewählt habe. Deshalb noch ein Telefon, ja ein Telefon wäre nützlich.

Reicht das als Antwort? Es ist eine schwierige Frage, finde ich. Aber meine Antwort ist lang, oder? Und ausführlich, vor allem. Ein bisschen erfunden auch, aber das ist egal, nicht? Die absolute Antwort auf deine Frage finde ich einfach nicht. Deshalb. Deshalb antworte ich so, wenn es dir Recht ist.

Sonntag, 7. November 2010

A.* und O.*

Als sie ankamen, hat sie den Mantel auf das frisch gemachte Bett gelegt und die Tasche ausgepackt. Sie hat alles in den leeren Schrank geräumt, die zehn Unterhosen aufeinander gestapelt auf ein Regal gelegt, daneben die zehn Socken - alles schwarze, dünne und dickere - und die zwei BHs. Einen Stock tiefer waren die Hosen, die kurzen und daneben die langen. Die Röcke hat sie aufgehängt, gleich neben den Blusen, und die T-Shirts und Pullover in das darüber liegende Regal eingereiht. Dann räumte sie das Necessaire aus und dann noch die Schuhe.

Sie räumt immer zuerst die Tasche aus, wenn sie ankommt, egal, wo sie ankommt. Sie räumt aus, um anzukommen - nicht umgekehrt. Erst dann ist sie angekommen.

Er sass auf dem Bett und rauchte. Seine volle Tasche stand neben dem Bett.

Als sie fertig war mit ausräumen, setzte sie sich zu ihm. Sie rauchte nicht mehr, deshalb sass sie nur da, inhalierte gierig seinen ausgestossenen blauen Qualm und sammelte Sätze, vielleicht auch Gedanken. Ich weiss nicht so genau, was sie sammelt.

Sie gehört zu den Menschen, die nach Paris fahren und ihre Tasche auspacken, für eine Nacht. Sie ist so. (Ich übrigens auch). Sie kommt an. Sie packt aus. Sie packt immer zuerst ihre Tasche aus. Erst dann ist sie angekommen, egal wo.

Er nicht. Er kommt an und raucht. Er reist und raucht. Er raucht, wenn er reist, und er raucht auch, wenn er ankommt. Er raucht, um anzukommen, um zu reisen und umgekehrt. Früher hat sie das auch getan. Jetzt inhaliert sie seinen Rauch und sammle Sätze oder Gedanken. Er gehört zu denen, die reisen und ihre Tasche nicht auspacken. Wahrscheinlich können diese Menschen ein Jahr reisen - oder länger noch - und haben in dieser Zeit ihren Koffer nicht einmal ausgepackt. Sie reisen, kommen an, vielleicht rauchen sie, vielleicht auch nicht, ziehen sich aus, ziehen sich wieder an, gehen, kommen an, vielleicht rauchen sie, vielleicht nicht, lachen, erleben, reisen und haben während der ganzen Zeit den Boden ihres Koffers nicht einmal gesehen.

Sie könnte das nicht. Sie hätte dann das Gefühl nirgends zu sein, nirgends angekommen zu sein, nirgends gewesen zu sein, vielleicht sogar niemals zuhause zu sein.

Er nicht. Er ist zu hause, wo sie ist, sagt er, und sie da, wo ihre ausgeräumte Tasche steht - und ihre Schuhe.


*Name mir unbekannt

Freitag, 22. Oktober 2010

Ausser Amélie

Menschen schreiben in Steckbriefen und Anzeigen manchmal, was sie mögen und was sie nicht mögen, wie Amélie. Bei Amélie war das schön, wirklich richtig schön. Aber nur bei Amélie.
Ich denke, wenn ich diese Ich-mag-Sätze lese, darüber nach, was ich mag und was ich gar nicht mag - und jedesmal ist es etwas anderes, was ich gerade besonders mag. Ich mag so viel, und so viel mag ich auch nicht. Und was sagt es überhaupt über einen Menschen aus, und wen interessierts, dass ich Marroni und den Herbst, den Frühherbst mag, dass ich fleischlos glücklich bin und Zigarettenrauch an Sommermorgen liebe?
Ich könnte eine Liste schreiben, davon, was ich mag und was nicht. Diese Liste würde wahrscheinlich unendlich lang werden. Tausend Dinge, die ich liebe und tausend, die ich hasse. Niemand würde sie jemals zu ende lesen, und ich würde nicht mehr über mich wissen, als ich jetzt schon weiss, denn ich weiss ja, was ich mag und was nicht, auch wenn ich jetzt gerade nicht alles aufzählen kann.
Man könnte von allen Menschen Listen machen - Listen mit einem Plus, für das, was sie mögen und Listen mit einem Minus, für das, was sie nicht mögen. Ich mag Honig im Tee, überhaupt mag ich Tee, aber ich mag ihn nicht zubereiten. Dann könnte man auf der Liste vergleichen, wer alles Tee mag mit Honig und gerne Tee zubereiten mag. Und so würde man seine Freunde finden, den perfekten Partner finden, wahrscheinlich.
Man könnte bei den Plus und auch bei den Minus noch einige, sagen wir zehn, wichtige Plus und zehn wichtige Minus angeben, mit einem Doppelstrich unterstrichen oder rote Plus und rote Minus machen. Die müssten dann übereinstimmen, die zehn wichtigen Plus und die zehn wichtigen Minus.
Ich mag besonders: Fussball spielen, Marroni essen, Rotwein bei Regen auf dem Balkon, Pickel ausdrücken und so... Er mag das dann alles auch - und dann ist es langweilig, irgendwie. Oder er mag das alles auch und sieht scheisse aus - also so, wie es mir nicht gefällt. Dann sind die Listen alle für nichts, für nichts gut.
Man braucht nicht immer sagen, ich mag dünne Bücher lesen mit schönen Sätzen und ich mag dies und das. Das interessiert nicht, das ist egal - ausser bei Amélie natürlich!

Aber damit es doch noch abschliessend gesagt wurde: Gestern habe ich gemerkt, dass ich in der Nacht Fenster mag, hohe Fenster ohne Vorhänge. Ich mag in fremde Wohnungen schauen bei Nacht. Besonders mag ich (und an dieser Stelle müsste dann wahrscheinlich ein rotes Plus oder ein doppelt unterstrichenes Plus stehen) schöne Lampen sehen, Kronleuchter und eine wuchernde Pflanze. Das macht Heimweh, Heimweh nach Kindheit, nach Grosseltern und Rösti. Besonders mag ich auch volle Büchergestelle, beleuchtet vom Kronleuchter und daneben die wuchernde Pflanze, vielleicht noch ein Holztisch. Das muss aber nicht sein. Der Holztisch steht unter einem normalen Plus, unter keinem roten oder doppelt unterstrichenen Plus. Kronleuchter, wuchernde Pflanze und volles Büchergestell reichen völlig aus.
Das mag ich, und Rösti mag ich auch. Nur damit es doch noch gesagt wurde.
So, und jetzt zählen wir nicht mehr auf, was wir mögen und was wir nicht mögen. Hören wir damit auf. Das interessiert nicht. Niemanden.
Nur Amélie darf das. Sie darf das, weil es schön ist, wenn sie es tut, wirklich richtig schön.

Dienstag, 5. Oktober 2010

Mittwoch, 29. September 2010

Grüss mir das Meer

Damals - ich glaube, es war im Herbst, irgendwann im Herbst - als ich noch ein Fisch war, umgeben vom Dröhnen der Wale, obwohl keine Wale da waren, habe ich die Sehnsucht gespürt.
Ich war ein kleiner Fisch und wollte so gerne ein Wal sein, ein grosser Wal oder ich wollte Beine haben. Ich träumte davon, wie es vorher war und davon, wie es sein würde, wenn ich kein Fisch mehr sein werde.
Du hast mich nie verstanden und sagtest, ich würde immer nur daran denken, was war und was kommen würde. Ich sagte, dies sei die Gegenwart - die Gegenwart sei immer nur das, was war und was kommen würde.
Als mir dann kleine Beine wuchsen, war ich erfreut. Ich glaube sogar, dass ich glücklich war, irgendwie. Als dann die Beine lang genug waren, schritt ich langsam aufs Land.
Ich habe mich nicht umgedreht, bin einfach gegangen. Ich glaube, du hast mir hinterher geschaut. Ich weiss es aber nicht.
Ich liess die Luft in meine Lungen strömen und fühlte mich frei. Die Sehnsucht war weg.
Jetzt ist wieder der Herbst da. Die Ahornblätter färben sich schon ein bisschen braun und die Kastanien werden reif. Die Sonne scheint nur noch schwach durch den feinen Nebel.
Es ist, als würde ich das erste Mal Herbst erleben, obwohl ich weiss, dass dem nicht so ist.
Ich fühle wider diese leichte Sehnsucht und denke zurück, wie es war, als ich noch ein Fisch war, im Meer bei dir, obwohl du nicht da warst und das Dröhnen der Wale hörte, obwohl keine Wale da waren, und wie es wäre, wenn ich wieder ein Fisch wäre.
Vielleicht hattest du Recht, und die Gegenwart ist nicht nur das, was war und was sein wird. Sie ist etwas dazwischen, das ich nicht fassen kann - wahrscheinlich nie. Aber immerhin ist die Sehnsucht wieder da, immerhin.
Sehnsucht ist schön. Sehnsucht ist schön, egal wonach, denke ich, und ich denke an dich.
Vielleicht fällt ein braunes Ahornblatt zu dir ins Meer - obwohl du nie im Meer warst, aber du warst im Herbst, glaube ich - und grüsst dich von mir.
Dann grüss mir das Meer, grüss mir das Meer und die Fische, und sag ihnen, dass Gegenwart etwas anderes ist, als das, was war und das was sein wird. Sag ihnen das!

Vom Fliegen, Fotografieren und Töten

Am Anfang waren sie und das Licht, und sie hatte das Gefühl, sie würde Gedichte schreiben mit dem Licht, zärtliche Liebesgedichte mit einer Feder, einer farbigen Vogelfeder. Sie schrieb die Gedichte Satz um Satz, als trüge sie selber Gefieder und flöge über die Erde, frei; bis ihr eines Tages auffiel, dass es nicht Gedichte waren, die sie schrieb - es waren plattgedrückte Berge, plattgedrückte Häuser, ganze plattgedrückte Landschaften und Städte, die sie im beiläufigen Vorübergehen tot getrampelt hatte. Sie fand diese platten Dinge zwar immer noch schön, aber es fiel ihr schwer, sie herzustellen, weil sie nun bewusst dafür töten musste. Das Töten war aber ihr Leben. Ihr Leben war das Töten. Und sie nahm die vermeintliche Vogelfeder, mit der sie nicht mehr fliegen konnte, wieder aus dem Schrank und walzte alles platt, was ihr gefiel.
Dann stand sie vor den entstandenen Fotografien, zweidimensional und tot, und fand sie - irgendwie - schön. Aber schöner war es mit dem Licht zu fliegen.

Ispiriert durch Henri Michaux, In der Gesellschaft der Ungeheuer
Zitat: "(...)Die Bäume auf seinem Weg warf er über den Haufen, warf sie platt, und es waren Photographien.(...)"

Dienstag, 28. September 2010

Über das bodenlose Nichts und keine Sonne*


Ein weisses, grosses Nichts umgab mich, und da waren Farben. Von links kam ein grosses Rot. Es füllte langsam die linke Seite aus, bis es meine ganze Sicht einnahm, um dann einem leuchtenden Gelb zu weichen, das sich von rechts kommend vor meine Augen schob. Dann stolperte ich. Ein Trottoirabsatz. Ich hatte einen Fussgängerstreifen überquert - daher das grosse Gelb. Ich zog die milchige Brille aus, und Sheila, meine sehbehinderte Begleiterin, überreichte mir anstelle des weissen Nichts eine Augenbinde - totale Dunkelheit, schwarzes, bodenloses Nichts.
An Sheilas Arm festgeklammert, durchquerte ich den belebten Bahnhof. Ich hörte Stimmen, fühlte jede Unebenheit des Bodens und meine Unsicherheit - vor allem fühlte ich meine Unsicherheit. Nur schwarz, nur nichts und beängstigende Geräusche. Jetzt gehen wir auf die Rolltreppe, hörte ich Sheilas Stimme. Die Unsicherheit wich einer tatsächlichen Angst. Ich schielte angestrengt unter der Binde hindurch auf den Boden und erhaschte einen Blick auf das fahrende Metall vor mir. Das tat ich auch wieder, als ich fühlte, dass die rollende Treppe flach wurde. Zu sehen, gab mir meine Sicherheit zurück.
Und jetzt, wo willst du noch hin?, fragte mich Sheila. Ich habe es gesehen, nichts zu sehen, antwortete ich und zog das Nichts und damit meine Unsicherheit von meinen Augen weg. Grelles Licht blendete mich. Erst nach einigen Sekunden begann ich wahrzunehmen, wo ich mich befand: am Ausgang des Bahnhofs, und was mich blendete, awr der angenegme Schatten des Bahnhofdachs. Wir verabschiedeten uns, und ich schaute Sheila noch eine Weile hinterher, wie sie zügigen Schrittes die Strasse überquert und in die nächste Gass einbiegt, als würde sie alles so sehen wie ich.
Jeden Tag gehen Sheila, Herr Pfister und viele andere durch das farbig verschwommene Nichts. Jeden Tag gehen Pius und viele andere durch das schwarze, beängstigende Nichts. Sie gehen durch ein visuelles Nichts, ohne Angst, und meistern ihren Alltag. Und jeden Tag verlassen wir uns auf unsere Augen, um nicht über Absätze zu stolpern und in Türen zu laufen. Jeden Tag sehen wir Bäume und ihr Grün, bekannte und unbekannte Gesichter, graue Häuser, farbige Schilder und wissen nicht, wie es ist, durch ein Nichts zu gehen - ein farbiges Nichts oder ein ganz schwarzes Nichts, als gäbe es nur Nacht und keine Sonne.

*Text und Bild waren zusehen in der Ausstellung Utopie und Alltag, im Spannungsfeld zwischen Kunst und Bildung (17.Juli - 5.September 2010), unter dem Titel Siehst du - eine Annäherung an eine nonvisuelle Welt (work in progress)
http://www.kunstmuseum-thun.ch/index.php?id=450